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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Allgemeinen auf öffentliche Angelegenheiten anwendbare Macht von der ge-
meinen Meinung als unverträglich mit Staat, Gesetz und Recht betrachtet und
nimmermehr geduldet wird. Wenn Parteien in Geheimbündelei, Eidesleistung
und regelmäßigen Verkehr ausarten, dann sind sie Verschwörungen oder
Kindereien, nicht aber natürliche Gestaltungen eines gesunden staatlichen
Lebens.
3) Sehr belehrend hinsichtlich der Folgen einer größeren oder kleineren
staatlichen Ausbildung ist eine Vergleichung des Benehmens englischer Par-
teien und des von den deutschen Liberalen nach der Bewegung von 1848 be-
folgten. Während jene, wenn sie durch Erlangung der Mehrheit im Parliamente
an das Ruder gekommen sind, die Uebernahme der Regierung durch die
bedeutendsten Männer aus ihrer Mitte als ihren eigenen Triumph betrachten
und nun dem bestehenden Ministerium treu zur Stütze dienen: wendete sich
die deutsche constitutionelle Partei alsbald von ihren bisherigen Stimm-
führern ab, als diese, und mit ihnen die bisher angestrebten Maßregeln,
unerwartet den Sieg errungen hatten. Ministeriell zu sein und zu heißen,
erschien ihnen ein Vorwurf, ohne Rücksicht darauf, wer die Minister waren
und was sie thaten. Bei so geringer Einsicht mag man wohl zu einem
beständigen ohnmächtigen Bekritteln von Regierungsmaßregeln, niemals aber
zur eigenen Handhabung der Staatsgewalt befähigt sein.
4) Parteien auf rein staatlicher Grundlage waren oder sind z. B. die
Whigs, Tories und Radicalen in England, die Hüte und Mützen in Schwe-
den, die Conservativen, Liberalen und Republikaner auf dem ganzen euro-
päischen Festlande, die Republikaner und Demokraten in Nordamerika. Parteien
mit religiöser Färbung: Guelfen und Ghibellinen; die Puritaner und Inde-
pendenten; die Hugenotten und Liguisten; die Geusen und die Spanisch-
gesinnten. Parteien auf gesellschaftlicher Grundlage: Patrizier und Plebejer
in Rom; die Geschlechter und die Zünfte der deutschen und italienischen Städte;
die Normannen und die Angelsachsen nach Wilhelm dem Eroberer; die
Weißen und die Farbigen in den Antillen. Bedeutsame Verquickungen ver-
schiedener Grundlagen sind aber unter Andern in Irland, wo keltische
Abstammung und katholische Kirche im Gegensatze mit Sachsenthum und
Protestantismus stehen; oder in Ungarn, wo magyarische Nationalität mit
Freiheitsideen sich verbindet.
§ 22.
12. Von Aenderung und Untergang der Staaten.

Es kann sich begeben, daß der Staat seinem Zwecke, also
der Förderung der concreten Lebensaufgabe des Volkes, nicht
entspricht. Und zwar sind hier vier Fälle möglich:

Allgemeinen auf öffentliche Angelegenheiten anwendbare Macht von der ge-
meinen Meinung als unverträglich mit Staat, Geſetz und Recht betrachtet und
nimmermehr geduldet wird. Wenn Parteien in Geheimbündelei, Eidesleiſtung
und regelmäßigen Verkehr ausarten, dann ſind ſie Verſchwörungen oder
Kindereien, nicht aber natürliche Geſtaltungen eines geſunden ſtaatlichen
Lebens.
3) Sehr belehrend hinſichtlich der Folgen einer größeren oder kleineren
ſtaatlichen Ausbildung iſt eine Vergleichung des Benehmens engliſcher Par-
teien und des von den deutſchen Liberalen nach der Bewegung von 1848 be-
folgten. Während jene, wenn ſie durch Erlangung der Mehrheit im Parliamente
an das Ruder gekommen ſind, die Uebernahme der Regierung durch die
bedeutendſten Männer aus ihrer Mitte als ihren eigenen Triumph betrachten
und nun dem beſtehenden Miniſterium treu zur Stütze dienen: wendete ſich
die deutſche conſtitutionelle Partei alsbald von ihren bisherigen Stimm-
führern ab, als dieſe, und mit ihnen die bisher angeſtrebten Maßregeln,
unerwartet den Sieg errungen hatten. Miniſteriell zu ſein und zu heißen,
erſchien ihnen ein Vorwurf, ohne Rückſicht darauf, wer die Miniſter waren
und was ſie thaten. Bei ſo geringer Einſicht mag man wohl zu einem
beſtändigen ohnmächtigen Bekritteln von Regierungsmaßregeln, niemals aber
zur eigenen Handhabung der Staatsgewalt befähigt ſein.
4) Parteien auf rein ſtaatlicher Grundlage waren oder ſind z. B. die
Whigs, Tories und Radicalen in England, die Hüte und Mützen in Schwe-
den, die Conſervativen, Liberalen und Republikaner auf dem ganzen euro-
päiſchen Feſtlande, die Republikaner und Demokraten in Nordamerika. Parteien
mit religiöſer Färbung: Guelfen und Ghibellinen; die Puritaner und Inde-
pendenten; die Hugenotten und Liguiſten; die Geuſen und die Spaniſch-
geſinnten. Parteien auf geſellſchaftlicher Grundlage: Patrizier und Plebejer
in Rom; die Geſchlechter und die Zünfte der deutſchen und italieniſchen Städte;
die Normannen und die Angelſachſen nach Wilhelm dem Eroberer; die
Weißen und die Farbigen in den Antillen. Bedeutſame Verquickungen ver-
ſchiedener Grundlagen ſind aber unter Andern in Irland, wo keltiſche
Abſtammung und katholiſche Kirche im Gegenſatze mit Sachſenthum und
Proteſtantismus ſtehen; oder in Ungarn, wo magyariſche Nationalität mit
Freiheitsideen ſich verbindet.
§ 22.
12. Von Aenderung und Untergang der Staaten.

Es kann ſich begeben, daß der Staat ſeinem Zwecke, alſo
der Förderung der concreten Lebensaufgabe des Volkes, nicht
entſpricht. Und zwar ſind hier vier Fälle möglich:

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[158/0172] ²⁾ Allgemeinen auf öffentliche Angelegenheiten anwendbare Macht von der ge- meinen Meinung als unverträglich mit Staat, Geſetz und Recht betrachtet und nimmermehr geduldet wird. Wenn Parteien in Geheimbündelei, Eidesleiſtung und regelmäßigen Verkehr ausarten, dann ſind ſie Verſchwörungen oder Kindereien, nicht aber natürliche Geſtaltungen eines geſunden ſtaatlichen Lebens. ³⁾ Sehr belehrend hinſichtlich der Folgen einer größeren oder kleineren ſtaatlichen Ausbildung iſt eine Vergleichung des Benehmens engliſcher Par- teien und des von den deutſchen Liberalen nach der Bewegung von 1848 be- folgten. Während jene, wenn ſie durch Erlangung der Mehrheit im Parliamente an das Ruder gekommen ſind, die Uebernahme der Regierung durch die bedeutendſten Männer aus ihrer Mitte als ihren eigenen Triumph betrachten und nun dem beſtehenden Miniſterium treu zur Stütze dienen: wendete ſich die deutſche conſtitutionelle Partei alsbald von ihren bisherigen Stimm- führern ab, als dieſe, und mit ihnen die bisher angeſtrebten Maßregeln, unerwartet den Sieg errungen hatten. Miniſteriell zu ſein und zu heißen, erſchien ihnen ein Vorwurf, ohne Rückſicht darauf, wer die Miniſter waren und was ſie thaten. Bei ſo geringer Einſicht mag man wohl zu einem beſtändigen ohnmächtigen Bekritteln von Regierungsmaßregeln, niemals aber zur eigenen Handhabung der Staatsgewalt befähigt ſein. ⁴⁾ Parteien auf rein ſtaatlicher Grundlage waren oder ſind z. B. die Whigs, Tories und Radicalen in England, die Hüte und Mützen in Schwe- den, die Conſervativen, Liberalen und Republikaner auf dem ganzen euro- päiſchen Feſtlande, die Republikaner und Demokraten in Nordamerika. Parteien mit religiöſer Färbung: Guelfen und Ghibellinen; die Puritaner und Inde- pendenten; die Hugenotten und Liguiſten; die Geuſen und die Spaniſch- geſinnten. Parteien auf geſellſchaftlicher Grundlage: Patrizier und Plebejer in Rom; die Geſchlechter und die Zünfte der deutſchen und italieniſchen Städte; die Normannen und die Angelſachſen nach Wilhelm dem Eroberer; die Weißen und die Farbigen in den Antillen. Bedeutſame Verquickungen ver- ſchiedener Grundlagen ſind aber unter Andern in Irland, wo keltiſche Abſtammung und katholiſche Kirche im Gegenſatze mit Sachſenthum und Proteſtantismus ſtehen; oder in Ungarn, wo magyariſche Nationalität mit Freiheitsideen ſich verbindet. § 22. 12. Von Aenderung und Untergang der Staaten. Es kann ſich begeben, daß der Staat ſeinem Zwecke, alſo der Förderung der concreten Lebensaufgabe des Volkes, nicht entſpricht. Und zwar ſind hier vier Fälle möglich:

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/172>, abgerufen am 24.11.2024.