Es ist in unserer Zeit sehr gewöhnlich, das ganze Ver- hältniß des Einzelnen zum Staate, und zwar sowohl die Seite der Ansprüche als die der Verpflichtungen, lediglich aus dem Gesichtspunkte des Rechtes aufzufassen. Dies ist insoferne begreiflich, als bei dieser Auffassung sich herausstellt, wieviel im Nothfalle mit Gewalt erzwungen werden kann, und als eine solche Gewaltanwendung bei der menschlichen Unvollkom- menheit von besonderem Werthe ist. Allein eine solche Betrach- tungsweise ist doch eine ganz einseitige, also falsche. Der Mensch hat auch in diesen Verhältnissen des Zusammenlebens, wie in allen sonstigen, noch anderen Gesetzen zu folgen, als denen des Rechtes; nämlich denen der Sittlichkeit und der Klugheit. Wenn ein Unterthan dem Gemeinwesen nur das leistet, wozu er gezwungen werden kann, so bleibt er freilich straffrei und rechtlich unbescholten. Allein leicht ist es möglich, daß ihm das Sittengesetz der Sache oder der Form nach viel weiter Gehendes auflegt; und dann erfüllt er seine Pflicht nicht, und wird das Gemeinwesen sich nicht gut befinden, wenn er nicht auch dieser Auflage Folge leistet. Ebenso ist damit nicht Alles gethan, wenn die Leistungen des Staates gegen den Bürger hinter dem strengen Rechtsgesetze nicht zurückbleiben, und somit Weiteres nicht erzwungen werden kann; seine Aufgabe ist es auch, die Forderungen der Zweckmäßigkeit und Klugheit zu beachten, weil nur auf diese Weise wirklich das erreicht wird, was unter den gegebenen Umständen das Beste und möglich ist. Auch ist sicher nicht zu längnen, daß der Inhaber einer Staatsgewalt sich mit seiner Pflicht und seinem Gewissen durch eine scharfe Einhaltung der Rechtsvorschriften noch lange nicht abfindet; sondern daß er, falls seine Mittel dazu reichen, so weit zu gehen hat, als das Sittengesetz verlangt. Das Recht ist freilich die Grundlage und die Vorbedingung alles Weiteren; aber es ist nicht die ganze mögliche Vollendung.
Es iſt in unſerer Zeit ſehr gewöhnlich, das ganze Ver- hältniß des Einzelnen zum Staate, und zwar ſowohl die Seite der Anſprüche als die der Verpflichtungen, lediglich aus dem Geſichtspunkte des Rechtes aufzufaſſen. Dies iſt inſoferne begreiflich, als bei dieſer Auffaſſung ſich herausſtellt, wieviel im Nothfalle mit Gewalt erzwungen werden kann, und als eine ſolche Gewaltanwendung bei der menſchlichen Unvollkom- menheit von beſonderem Werthe iſt. Allein eine ſolche Betrach- tungsweiſe iſt doch eine ganz einſeitige, alſo falſche. Der Menſch hat auch in dieſen Verhältniſſen des Zuſammenlebens, wie in allen ſonſtigen, noch anderen Geſetzen zu folgen, als denen des Rechtes; nämlich denen der Sittlichkeit und der Klugheit. Wenn ein Unterthan dem Gemeinweſen nur das leiſtet, wozu er gezwungen werden kann, ſo bleibt er freilich ſtraffrei und rechtlich unbeſcholten. Allein leicht iſt es möglich, daß ihm das Sittengeſetz der Sache oder der Form nach viel weiter Gehendes auflegt; und dann erfüllt er ſeine Pflicht nicht, und wird das Gemeinweſen ſich nicht gut befinden, wenn er nicht auch dieſer Auflage Folge leiſtet. Ebenſo iſt damit nicht Alles gethan, wenn die Leiſtungen des Staates gegen den Bürger hinter dem ſtrengen Rechtsgeſetze nicht zurückbleiben, und ſomit Weiteres nicht erzwungen werden kann; ſeine Aufgabe iſt es auch, die Forderungen der Zweckmäßigkeit und Klugheit zu beachten, weil nur auf dieſe Weiſe wirklich das erreicht wird, was unter den gegebenen Umſtänden das Beſte und möglich iſt. Auch iſt ſicher nicht zu längnen, daß der Inhaber einer Staatsgewalt ſich mit ſeiner Pflicht und ſeinem Gewiſſen durch eine ſcharfe Einhaltung der Rechtsvorſchriften noch lange nicht abfindet; ſondern daß er, falls ſeine Mittel dazu reichen, ſo weit zu gehen hat, als das Sittengeſetz verlangt. Das Recht iſt freilich die Grundlage und die Vorbedingung alles Weiteren; aber es iſt nicht die ganze mögliche Vollendung.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0131"n="117"/><p>Es iſt in unſerer Zeit ſehr gewöhnlich, das ganze Ver-<lb/>
hältniß des Einzelnen zum Staate, und zwar ſowohl die Seite<lb/>
der Anſprüche als die der Verpflichtungen, lediglich aus dem<lb/>
Geſichtspunkte des Rechtes aufzufaſſen. Dies iſt inſoferne<lb/>
begreiflich, als bei dieſer Auffaſſung ſich herausſtellt, wieviel<lb/>
im Nothfalle mit Gewalt erzwungen werden kann, und als<lb/>
eine ſolche Gewaltanwendung bei der menſchlichen Unvollkom-<lb/>
menheit von beſonderem Werthe iſt. Allein eine ſolche Betrach-<lb/>
tungsweiſe iſt doch eine ganz einſeitige, alſo falſche. Der<lb/>
Menſch hat auch in dieſen Verhältniſſen des Zuſammenlebens,<lb/>
wie in allen ſonſtigen, noch anderen Geſetzen zu folgen, als<lb/>
denen des Rechtes; nämlich denen der Sittlichkeit und der<lb/>
Klugheit. Wenn ein Unterthan dem Gemeinweſen nur das<lb/>
leiſtet, wozu er gezwungen werden kann, ſo bleibt er freilich<lb/>ſtraffrei und rechtlich unbeſcholten. Allein leicht iſt es möglich,<lb/>
daß ihm das Sittengeſetz der Sache oder der Form nach viel<lb/>
weiter Gehendes auflegt; und dann erfüllt er ſeine Pflicht nicht,<lb/>
und wird das Gemeinweſen ſich nicht gut befinden, wenn er<lb/>
nicht auch dieſer Auflage Folge leiſtet. Ebenſo iſt damit nicht<lb/>
Alles gethan, wenn die Leiſtungen des Staates gegen den<lb/>
Bürger hinter dem ſtrengen Rechtsgeſetze nicht zurückbleiben,<lb/>
und ſomit Weiteres nicht erzwungen werden kann; ſeine Aufgabe<lb/>
iſt es auch, die Forderungen der Zweckmäßigkeit und Klugheit<lb/>
zu beachten, weil nur auf dieſe Weiſe wirklich das erreicht wird,<lb/>
was unter den gegebenen Umſtänden das Beſte und möglich<lb/>
iſt. Auch iſt ſicher nicht zu längnen, daß der Inhaber einer<lb/>
Staatsgewalt ſich mit ſeiner Pflicht und ſeinem Gewiſſen durch<lb/>
eine ſcharfe Einhaltung der Rechtsvorſchriften noch lange nicht<lb/>
abfindet; ſondern daß er, falls ſeine Mittel dazu reichen, ſo<lb/>
weit zu gehen hat, als das Sittengeſetz verlangt. Das Recht<lb/>
iſt freilich die Grundlage und die Vorbedingung alles Weiteren;<lb/>
aber es iſt nicht die ganze mögliche Vollendung.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[117/0131]
Es iſt in unſerer Zeit ſehr gewöhnlich, das ganze Ver-
hältniß des Einzelnen zum Staate, und zwar ſowohl die Seite
der Anſprüche als die der Verpflichtungen, lediglich aus dem
Geſichtspunkte des Rechtes aufzufaſſen. Dies iſt inſoferne
begreiflich, als bei dieſer Auffaſſung ſich herausſtellt, wieviel
im Nothfalle mit Gewalt erzwungen werden kann, und als
eine ſolche Gewaltanwendung bei der menſchlichen Unvollkom-
menheit von beſonderem Werthe iſt. Allein eine ſolche Betrach-
tungsweiſe iſt doch eine ganz einſeitige, alſo falſche. Der
Menſch hat auch in dieſen Verhältniſſen des Zuſammenlebens,
wie in allen ſonſtigen, noch anderen Geſetzen zu folgen, als
denen des Rechtes; nämlich denen der Sittlichkeit und der
Klugheit. Wenn ein Unterthan dem Gemeinweſen nur das
leiſtet, wozu er gezwungen werden kann, ſo bleibt er freilich
ſtraffrei und rechtlich unbeſcholten. Allein leicht iſt es möglich,
daß ihm das Sittengeſetz der Sache oder der Form nach viel
weiter Gehendes auflegt; und dann erfüllt er ſeine Pflicht nicht,
und wird das Gemeinweſen ſich nicht gut befinden, wenn er
nicht auch dieſer Auflage Folge leiſtet. Ebenſo iſt damit nicht
Alles gethan, wenn die Leiſtungen des Staates gegen den
Bürger hinter dem ſtrengen Rechtsgeſetze nicht zurückbleiben,
und ſomit Weiteres nicht erzwungen werden kann; ſeine Aufgabe
iſt es auch, die Forderungen der Zweckmäßigkeit und Klugheit
zu beachten, weil nur auf dieſe Weiſe wirklich das erreicht wird,
was unter den gegebenen Umſtänden das Beſte und möglich
iſt. Auch iſt ſicher nicht zu längnen, daß der Inhaber einer
Staatsgewalt ſich mit ſeiner Pflicht und ſeinem Gewiſſen durch
eine ſcharfe Einhaltung der Rechtsvorſchriften noch lange nicht
abfindet; ſondern daß er, falls ſeine Mittel dazu reichen, ſo
weit zu gehen hat, als das Sittengeſetz verlangt. Das Recht
iſt freilich die Grundlage und die Vorbedingung alles Weiteren;
aber es iſt nicht die ganze mögliche Vollendung.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/131>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.