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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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sämmtlicher staatlicher Erscheinungen wo möglich noch unhaltbarer. Es
ist nämlich einleuchtend: 1. daß sämmtliche Staaten, mit einziger Ausnahme
der Despotie, die Berücksichtigung des allgemeinen Besten von sich behaupten;
2. daß das sowohl nach Form als nach Aufgabe Allverschiedenartigste bunt
zusammengeworfen wird. -- Endlich ist die Vergleichung der Staaten mit
den Altern des menschlichen Lebens, also die Annahme von Staaten der
Kindheit, des Jünglingsalters u. s. w. (wie dies Welcker und Rohmer
thun, Bluntschli aber vertheidigt) nur ein mehr oder weniger dichterischer
oder witziger Vergleich, aber keine wissenschaftliche Auffassung und keine
Grundlage für Forderungen im Leben. Daß Völker alt oder jung seien,
ist eben so wenig ein klarer Verstandesbegriff oder eine richtige politische
Erklärung, als wenn zwischen männlichen und weiblichen Völkern unter-
schieden wird. Solche Bezeichnungen sind Phrasen oder Bilder der Phantasie
und machen in der Wissenschaft einen fremdartigen, fast unheimlichen
Eindruck.
3) So wenig es Billigung finden kann, wenn dem Rechtsstaate der
Neuzeit eine ausschließende religiöse Grundlage gegeben werden will, während
doch seine Aufgabe eine gleichzeitige und gleichmäßige Förderung aller mensch-
lichen Kräfte und Bedürfnisse ist, und sich die religiöse Ausbildung zu ihm
nicht anders verhält, als die Übung jeder andern geistigen Kraft: so ist es auf
der andern Seite ebensowenig gerechtfertigt, wenn die Theokratie nicht als eine
eigene Hauptgattung der Staaten erkannt wird. Es zeugt in der That von
wenigem Nachdenken oder von gar geringer geschichtlicher Kenntniß, wenn
völlig über eine Staatsart weggegangen wird, welche in allen Welttheilen
und in allen Zeitaltern vorgekommen ist, deren einzelne Beispiele oft einen
Jahrtausende langen Bestand darbieten, und deren Gesetzgebungen wir über-
dies weit vollständiger besitzen, als die der meisten andern Staaten. Die
Theokratieen sind, auch wenn sie lediglich nur aus dem Standpunkte des
öffentlichen Rechtes und der Staatsklugheit betrachtet werden, von dem
höchsten Interesse für jeden denkenden Menschen, und es ist in ihnen mehr
Menschenkenntniß und Kühnheit verwendet, als vielleicht in allen übrigen
Staatseinrichtungen zusammen. Vergl. Bluntschi, St.-Wörterb., Bd. I,
S. 250 fg.
4) Die Nichtunterscheidung des Staates der Neuzeit von dem der
Griechen und Römer ist insoferne verzeihlich und begreiflich, als die äußeren
Formen und Unterarten beider ungefähr gleich sind, und man somit versucht
sein kann, das in gleiche Unterabtheilungen Zerfallende für selbst gleichartig
zu halten. Allein bei genauerem Eindringen in den Geist der beiden
Staatsgattungen zeigt sich ein unversöhnbarer Widerspruch zwischen dem
Gemeinleben der Alten und der atomistischen Selbstsucht der Neueren. Es
ist deßhalb eben so verkehrt, wenn Beispiele und Lehren aus dem Staats-
ſämmtlicher ſtaatlicher Erſcheinungen wo möglich noch unhaltbarer. Es
iſt nämlich einleuchtend: 1. daß ſämmtliche Staaten, mit einziger Ausnahme
der Despotie, die Berückſichtigung des allgemeinen Beſten von ſich behaupten;
2. daß das ſowohl nach Form als nach Aufgabe Allverſchiedenartigſte bunt
zuſammengeworfen wird. — Endlich iſt die Vergleichung der Staaten mit
den Altern des menſchlichen Lebens, alſo die Annahme von Staaten der
Kindheit, des Jünglingsalters u. ſ. w. (wie dies Welcker und Rohmer
thun, Bluntſchli aber vertheidigt) nur ein mehr oder weniger dichteriſcher
oder witziger Vergleich, aber keine wiſſenſchaftliche Auffaſſung und keine
Grundlage für Forderungen im Leben. Daß Völker alt oder jung ſeien,
iſt eben ſo wenig ein klarer Verſtandesbegriff oder eine richtige politiſche
Erklärung, als wenn zwiſchen männlichen und weiblichen Völkern unter-
ſchieden wird. Solche Bezeichnungen ſind Phraſen oder Bilder der Phantaſie
und machen in der Wiſſenſchaft einen fremdartigen, faſt unheimlichen
Eindruck.
3) So wenig es Billigung finden kann, wenn dem Rechtsſtaate der
Neuzeit eine ausſchließende religiöſe Grundlage gegeben werden will, während
doch ſeine Aufgabe eine gleichzeitige und gleichmäßige Förderung aller menſch-
lichen Kräfte und Bedürfniſſe iſt, und ſich die religiöſe Ausbildung zu ihm
nicht anders verhält, als die Übung jeder andern geiſtigen Kraft: ſo iſt es auf
der andern Seite ebenſowenig gerechtfertigt, wenn die Theokratie nicht als eine
eigene Hauptgattung der Staaten erkannt wird. Es zeugt in der That von
wenigem Nachdenken oder von gar geringer geſchichtlicher Kenntniß, wenn
völlig über eine Staatsart weggegangen wird, welche in allen Welttheilen
und in allen Zeitaltern vorgekommen iſt, deren einzelne Beiſpiele oft einen
Jahrtauſende langen Beſtand darbieten, und deren Geſetzgebungen wir über-
dies weit vollſtändiger beſitzen, als die der meiſten andern Staaten. Die
Theokratieen ſind, auch wenn ſie lediglich nur aus dem Standpunkte des
öffentlichen Rechtes und der Staatsklugheit betrachtet werden, von dem
höchſten Intereſſe für jeden denkenden Menſchen, und es iſt in ihnen mehr
Menſchenkenntniß und Kühnheit verwendet, als vielleicht in allen übrigen
Staatseinrichtungen zuſammen. Vergl. Bluntſchi, St.-Wörterb., Bd. I,
S. 250 fg.
4) Die Nichtunterſcheidung des Staates der Neuzeit von dem der
Griechen und Römer iſt inſoferne verzeihlich und begreiflich, als die äußeren
Formen und Unterarten beider ungefähr gleich ſind, und man ſomit verſucht
ſein kann, das in gleiche Unterabtheilungen Zerfallende für ſelbſt gleichartig
zu halten. Allein bei genauerem Eindringen in den Geiſt der beiden
Staatsgattungen zeigt ſich ein unverſöhnbarer Widerſpruch zwiſchen dem
Gemeinleben der Alten und der atomiſtiſchen Selbſtſucht der Neueren. Es
iſt deßhalb eben ſo verkehrt, wenn Beiſpiele und Lehren aus dem Staats-
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[105/0119] ²⁾ ſämmtlicher ſtaatlicher Erſcheinungen wo möglich noch unhaltbarer. Es iſt nämlich einleuchtend: 1. daß ſämmtliche Staaten, mit einziger Ausnahme der Despotie, die Berückſichtigung des allgemeinen Beſten von ſich behaupten; 2. daß das ſowohl nach Form als nach Aufgabe Allverſchiedenartigſte bunt zuſammengeworfen wird. — Endlich iſt die Vergleichung der Staaten mit den Altern des menſchlichen Lebens, alſo die Annahme von Staaten der Kindheit, des Jünglingsalters u. ſ. w. (wie dies Welcker und Rohmer thun, Bluntſchli aber vertheidigt) nur ein mehr oder weniger dichteriſcher oder witziger Vergleich, aber keine wiſſenſchaftliche Auffaſſung und keine Grundlage für Forderungen im Leben. Daß Völker alt oder jung ſeien, iſt eben ſo wenig ein klarer Verſtandesbegriff oder eine richtige politiſche Erklärung, als wenn zwiſchen männlichen und weiblichen Völkern unter- ſchieden wird. Solche Bezeichnungen ſind Phraſen oder Bilder der Phantaſie und machen in der Wiſſenſchaft einen fremdartigen, faſt unheimlichen Eindruck. ³⁾ So wenig es Billigung finden kann, wenn dem Rechtsſtaate der Neuzeit eine ausſchließende religiöſe Grundlage gegeben werden will, während doch ſeine Aufgabe eine gleichzeitige und gleichmäßige Förderung aller menſch- lichen Kräfte und Bedürfniſſe iſt, und ſich die religiöſe Ausbildung zu ihm nicht anders verhält, als die Übung jeder andern geiſtigen Kraft: ſo iſt es auf der andern Seite ebenſowenig gerechtfertigt, wenn die Theokratie nicht als eine eigene Hauptgattung der Staaten erkannt wird. Es zeugt in der That von wenigem Nachdenken oder von gar geringer geſchichtlicher Kenntniß, wenn völlig über eine Staatsart weggegangen wird, welche in allen Welttheilen und in allen Zeitaltern vorgekommen iſt, deren einzelne Beiſpiele oft einen Jahrtauſende langen Beſtand darbieten, und deren Geſetzgebungen wir über- dies weit vollſtändiger beſitzen, als die der meiſten andern Staaten. Die Theokratieen ſind, auch wenn ſie lediglich nur aus dem Standpunkte des öffentlichen Rechtes und der Staatsklugheit betrachtet werden, von dem höchſten Intereſſe für jeden denkenden Menſchen, und es iſt in ihnen mehr Menſchenkenntniß und Kühnheit verwendet, als vielleicht in allen übrigen Staatseinrichtungen zuſammen. Vergl. Bluntſchi, St.-Wörterb., Bd. I, S. 250 fg. ⁴⁾ Die Nichtunterſcheidung des Staates der Neuzeit von dem der Griechen und Römer iſt inſoferne verzeihlich und begreiflich, als die äußeren Formen und Unterarten beider ungefähr gleich ſind, und man ſomit verſucht ſein kann, das in gleiche Unterabtheilungen Zerfallende für ſelbſt gleichartig zu halten. Allein bei genauerem Eindringen in den Geiſt der beiden Staatsgattungen zeigt ſich ein unverſöhnbarer Widerſpruch zwiſchen dem Gemeinleben der Alten und der atomiſtiſchen Selbſtſucht der Neueren. Es iſt deßhalb eben ſo verkehrt, wenn Beiſpiele und Lehren aus dem Staats-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/119>, abgerufen am 24.11.2024.