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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Gewalt beruht allerdings auf ganz andern Gründen. -- 4. Der Staat
werde auf diese Weise durch menschliche Willkühr geschaffen; dieser könne
es nun auch belieben, gar keinen einheitlichen Organismus zu wollen. Hier
ist nun freilich zuzugeben, daß, wo gar kein Staat besteht, auch keiner zu
begründen ist; allein dies ist die Frage gar nicht. Die allgemeine Noth-
wendigkeit des Staates bleibt auch bei der Vertragstheorie vollständig aner-
kannt; es handelt sich nur von der rechtlichen Art seiner Begründung, wo
und wann diese Nothwendigkeit ihre Wirkungen äußert. Mehr aber kann
keine Theorie leisten, welches auch ihr besonderer Inhalt sei. -- 5. Ein
Vertrag könne auch gegen die Freiheit gewendet werden. Allerdings; es
handelt sich aber nicht davon, welche gewünschte oder mißliebige Folgesätze
sich etwa ergeben aus der richtigen Ansicht über die Staatsgründung, solche
nur, welche dieß sei. Ist die Freiheit nicht schon vollständig gesichert durch
die Entstehung des Staates selbst, so müssen eben nachträglich Mittel zu
ihrer Bewahrung aufgefunden werden. -- 6. Ein Vertrag beruhe schließlich
doch auch nur auf Uebermacht, nämlich der Menge. Hier liegt eine offen-
bare Begriffsverwechslung vor. Daß die Mehrheit mehr Macht hat als
die Minderheit, ist freilich klar; ebenso, daß häufig die anfänglich einer ver-
schiedenen Meinung Zugewendeten sich der Mehrheit anschließen müssen,
weil sie nicht im Stande wären, ihren nächstgelegenen Wunsch abgesondert
ins Leben treten zu lassen, und sie also, wenn auch nicht gerne so doch
rechtlich gültig, eine späte Zustimmung geben: allein völlig irrig ist es,
das Entstehen der Verbindlichkeit und des rechtlichen Zustandes als eine
Folge der Uebermacht der Mehrheit darzustellen, während sie doch lediglich
aus der allgemeinen Uebereinstimmung der Willen hervorgeht. -- 7. Die
gemeinsame Anerkennung eines Verhältnisses brauche nicht auf einem Ver-
trage zu beruhen, sondern könne entweder aus dessen jedem Menschen ein-
leuchtenden Wahrheit hervorgehen, so z. B. die Anerkennung allgemeiner
physikalischer Thatsachen oder Gesetze, oder aus der Nothwendigkeit einer
verständigen Ordnung. Die Annahme der ersteren Möglichkeit ist einfache
Sophistik. Es handelt sich nicht von der Ursache, warum eine Erscheinung
der Sinnenwelt von jedem Einzelnen gleichmäßig aufgefaßt oder ein Natur-
gesetz von Allen erkannt wird; sondern von der Frage: wie der menschliche
Wille in Beziehung auf Zusammenleben rechtlich gebunden werden könne.
Was aber die Entstehung und allgemeine Anerkennung eines Verhältnisses
aus einem verbreiteten Gefühle einer, sittlichen oder stofflichen, Nothwendig-
keit betrifft, so ist durch Nothwendigkeit nur die Thatsache des Vorhanden-
seins im Allgemeinen erklärt, aber noch keineswegs der Rechtsgrund der
Erscheinung im einzelnen Falle und die Gültigkeit ihrer besonderen Form.
Ist es nun auch richtig, daß dieser Rechtsgrund nicht ausschließlich durch
vertragsmäßige Zustimmung der Betheiligten entstehen kann, so sollte doch
Gewalt beruht allerdings auf ganz andern Gründen. — 4. Der Staat
werde auf dieſe Weiſe durch menſchliche Willkühr geſchaffen; dieſer könne
es nun auch belieben, gar keinen einheitlichen Organismus zu wollen. Hier
iſt nun freilich zuzugeben, daß, wo gar kein Staat beſteht, auch keiner zu
begründen iſt; allein dies iſt die Frage gar nicht. Die allgemeine Noth-
wendigkeit des Staates bleibt auch bei der Vertragstheorie vollſtändig aner-
kannt; es handelt ſich nur von der rechtlichen Art ſeiner Begründung, wo
und wann dieſe Nothwendigkeit ihre Wirkungen äußert. Mehr aber kann
keine Theorie leiſten, welches auch ihr beſonderer Inhalt ſei. — 5. Ein
Vertrag könne auch gegen die Freiheit gewendet werden. Allerdings; es
handelt ſich aber nicht davon, welche gewünſchte oder mißliebige Folgeſätze
ſich etwa ergeben aus der richtigen Anſicht über die Staatsgründung, ſolche
nur, welche dieß ſei. Iſt die Freiheit nicht ſchon vollſtändig geſichert durch
die Entſtehung des Staates ſelbſt, ſo müſſen eben nachträglich Mittel zu
ihrer Bewahrung aufgefunden werden. — 6. Ein Vertrag beruhe ſchließlich
doch auch nur auf Uebermacht, nämlich der Menge. Hier liegt eine offen-
bare Begriffsverwechslung vor. Daß die Mehrheit mehr Macht hat als
die Minderheit, iſt freilich klar; ebenſo, daß häufig die anfänglich einer ver-
ſchiedenen Meinung Zugewendeten ſich der Mehrheit anſchließen müſſen,
weil ſie nicht im Stande wären, ihren nächſtgelegenen Wunſch abgeſondert
ins Leben treten zu laſſen, und ſie alſo, wenn auch nicht gerne ſo doch
rechtlich gültig, eine ſpäte Zuſtimmung geben: allein völlig irrig iſt es,
das Entſtehen der Verbindlichkeit und des rechtlichen Zuſtandes als eine
Folge der Uebermacht der Mehrheit darzuſtellen, während ſie doch lediglich
aus der allgemeinen Uebereinſtimmung der Willen hervorgeht. — 7. Die
gemeinſame Anerkennung eines Verhältniſſes brauche nicht auf einem Ver-
trage zu beruhen, ſondern könne entweder aus deſſen jedem Menſchen ein-
leuchtenden Wahrheit hervorgehen, ſo z. B. die Anerkennung allgemeiner
phyſikaliſcher Thatſachen oder Geſetze, oder aus der Nothwendigkeit einer
verſtändigen Ordnung. Die Annahme der erſteren Möglichkeit iſt einfache
Sophiſtik. Es handelt ſich nicht von der Urſache, warum eine Erſcheinung
der Sinnenwelt von jedem Einzelnen gleichmäßig aufgefaßt oder ein Natur-
geſetz von Allen erkannt wird; ſondern von der Frage: wie der menſchliche
Wille in Beziehung auf Zuſammenleben rechtlich gebunden werden könne.
Was aber die Entſtehung und allgemeine Anerkennung eines Verhältniſſes
aus einem verbreiteten Gefühle einer, ſittlichen oder ſtofflichen, Nothwendig-
keit betrifft, ſo iſt durch Nothwendigkeit nur die Thatſache des Vorhanden-
ſeins im Allgemeinen erklärt, aber noch keineswegs der Rechtsgrund der
Erſcheinung im einzelnen Falle und die Gültigkeit ihrer beſonderen Form.
Iſt es nun auch richtig, daß dieſer Rechtsgrund nicht ausſchließlich durch
vertragsmäßige Zuſtimmung der Betheiligten entſtehen kann, ſo ſollte doch
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[95/0109] ³⁾ Gewalt beruht allerdings auf ganz andern Gründen. — 4. Der Staat werde auf dieſe Weiſe durch menſchliche Willkühr geſchaffen; dieſer könne es nun auch belieben, gar keinen einheitlichen Organismus zu wollen. Hier iſt nun freilich zuzugeben, daß, wo gar kein Staat beſteht, auch keiner zu begründen iſt; allein dies iſt die Frage gar nicht. Die allgemeine Noth- wendigkeit des Staates bleibt auch bei der Vertragstheorie vollſtändig aner- kannt; es handelt ſich nur von der rechtlichen Art ſeiner Begründung, wo und wann dieſe Nothwendigkeit ihre Wirkungen äußert. Mehr aber kann keine Theorie leiſten, welches auch ihr beſonderer Inhalt ſei. — 5. Ein Vertrag könne auch gegen die Freiheit gewendet werden. Allerdings; es handelt ſich aber nicht davon, welche gewünſchte oder mißliebige Folgeſätze ſich etwa ergeben aus der richtigen Anſicht über die Staatsgründung, ſolche nur, welche dieß ſei. Iſt die Freiheit nicht ſchon vollſtändig geſichert durch die Entſtehung des Staates ſelbſt, ſo müſſen eben nachträglich Mittel zu ihrer Bewahrung aufgefunden werden. — 6. Ein Vertrag beruhe ſchließlich doch auch nur auf Uebermacht, nämlich der Menge. Hier liegt eine offen- bare Begriffsverwechslung vor. Daß die Mehrheit mehr Macht hat als die Minderheit, iſt freilich klar; ebenſo, daß häufig die anfänglich einer ver- ſchiedenen Meinung Zugewendeten ſich der Mehrheit anſchließen müſſen, weil ſie nicht im Stande wären, ihren nächſtgelegenen Wunſch abgeſondert ins Leben treten zu laſſen, und ſie alſo, wenn auch nicht gerne ſo doch rechtlich gültig, eine ſpäte Zuſtimmung geben: allein völlig irrig iſt es, das Entſtehen der Verbindlichkeit und des rechtlichen Zuſtandes als eine Folge der Uebermacht der Mehrheit darzuſtellen, während ſie doch lediglich aus der allgemeinen Uebereinſtimmung der Willen hervorgeht. — 7. Die gemeinſame Anerkennung eines Verhältniſſes brauche nicht auf einem Ver- trage zu beruhen, ſondern könne entweder aus deſſen jedem Menſchen ein- leuchtenden Wahrheit hervorgehen, ſo z. B. die Anerkennung allgemeiner phyſikaliſcher Thatſachen oder Geſetze, oder aus der Nothwendigkeit einer verſtändigen Ordnung. Die Annahme der erſteren Möglichkeit iſt einfache Sophiſtik. Es handelt ſich nicht von der Urſache, warum eine Erſcheinung der Sinnenwelt von jedem Einzelnen gleichmäßig aufgefaßt oder ein Natur- geſetz von Allen erkannt wird; ſondern von der Frage: wie der menſchliche Wille in Beziehung auf Zuſammenleben rechtlich gebunden werden könne. Was aber die Entſtehung und allgemeine Anerkennung eines Verhältniſſes aus einem verbreiteten Gefühle einer, ſittlichen oder ſtofflichen, Nothwendig- keit betrifft, ſo iſt durch Nothwendigkeit nur die Thatſache des Vorhanden- ſeins im Allgemeinen erklärt, aber noch keineswegs der Rechtsgrund der Erſcheinung im einzelnen Falle und die Gültigkeit ihrer beſonderen Form. Iſt es nun auch richtig, daß dieſer Rechtsgrund nicht ausſchließlich durch vertragsmäßige Zuſtimmung der Betheiligten entſtehen kann, ſo ſollte doch

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/109>, abgerufen am 24.11.2024.