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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Die Bekehrung im Alter.
Das Herz hat allemal den Verstand betrogen, und wo
es hoch gekommen, die Frömmigkeit zum Vorwurf sei-
ner Leidenschaften gemacht.

Jch besinne mich, fuhr er fort, daß ich in meiner
ersten Kindheit einen großen Theil an den geringsten Klei-
nigkeiten nahm; mein Herz war ein leerer Raum, der
von dem ersten Vorwurfe ganz erfüllet wurde. Meine
Mutter erfüllete mich anfangs ganz; nachher wurde ihr
Bild bey mir kleiner, weil mein silbernes Pfeifgen auch
einen kleinen Platz haben wollte. Jch gieng in die Schu-
le, und nahm so viel Wörtergens in diesen Raum, daß
mein silbernes Pfeifgen, nur den tausendsten Theil seines
vorigen Platzes mehr behaupten konnte. Eine gewisse
Rührung, welche ich mit der bewegenden Materie eini-
ger Weltweisen vergleiche, erhielt alle diese Bilderchens
in ihrem Schwunge. Jch nannte diese bewegende Ma-
terie einen natürlichen Trieb zum Vergnügen. -- Alle
Bilder woraus dieser Trieb seinen Vortheil nicht ziehen
konnte, blieben liegen und wurden nicht gerühret. Jch
erblickte einsmals eine Schöne, welche meinen ganzen
Seelenraum durchaus erfüllte. Meine Wörtergens,
waren so schwach, daß sie diesen eindringenden Reizun-
gen nicht den geringsten Widerstand thaten. Es wäh-
rete beynahe ein Jahr, daß meine vernunftlose Einöde
sich dergestalt von dieser Schöne erfüllen ließ. Endlich
aber kam das Spiel, welches anfangs einen unmerkli-
chen Theil in meinem Raum eroberte, aber nach und
nach so sehr sich ausdehnte, daß das Bild meiner Gat-
tin, nur einen geringen Theil behauptete, und zuletzt
alles Verhältnis verlor. Jetzt merkte ich, daß der Schwamm
meiner Leidenschaften seine ganze Ausdehnung verlieret.
Jch sahe, daß ich täglich frommer wurde, so wie diese
abnahmen -- -- Eine solche negative Frömmigkeit nahm

ein

Die Bekehrung im Alter.
Das Herz hat allemal den Verſtand betrogen, und wo
es hoch gekommen, die Froͤmmigkeit zum Vorwurf ſei-
ner Leidenſchaften gemacht.

Jch beſinne mich, fuhr er fort, daß ich in meiner
erſten Kindheit einen großen Theil an den geringſten Klei-
nigkeiten nahm; mein Herz war ein leerer Raum, der
von dem erſten Vorwurfe ganz erfuͤllet wurde. Meine
Mutter erfuͤllete mich anfangs ganz; nachher wurde ihr
Bild bey mir kleiner, weil mein ſilbernes Pfeifgen auch
einen kleinen Platz haben wollte. Jch gieng in die Schu-
le, und nahm ſo viel Woͤrtergens in dieſen Raum, daß
mein ſilbernes Pfeifgen, nur den tauſendſten Theil ſeines
vorigen Platzes mehr behaupten konnte. Eine gewiſſe
Ruͤhrung, welche ich mit der bewegenden Materie eini-
ger Weltweiſen vergleiche, erhielt alle dieſe Bilderchens
in ihrem Schwunge. Jch nannte dieſe bewegende Ma-
terie einen natuͤrlichen Trieb zum Vergnuͤgen. — Alle
Bilder woraus dieſer Trieb ſeinen Vortheil nicht ziehen
konnte, blieben liegen und wurden nicht geruͤhret. Jch
erblickte einsmals eine Schoͤne, welche meinen ganzen
Seelenraum durchaus erfuͤllte. Meine Woͤrtergens,
waren ſo ſchwach, daß ſie dieſen eindringenden Reizun-
gen nicht den geringſten Widerſtand thaten. Es waͤh-
rete beynahe ein Jahr, daß meine vernunftloſe Einoͤde
ſich dergeſtalt von dieſer Schoͤne erfuͤllen ließ. Endlich
aber kam das Spiel, welches anfangs einen unmerkli-
chen Theil in meinem Raum eroberte, aber nach und
nach ſo ſehr ſich ausdehnte, daß das Bild meiner Gat-
tin, nur einen geringen Theil behauptete, und zuletzt
alles Verhaͤltnis verlor. Jetzt merkte ich, daß der Schwamm
meiner Leidenſchaften ſeine ganze Ausdehnung verlieret.
Jch ſahe, daß ich taͤglich frommer wurde, ſo wie dieſe
abnahmen — — Eine ſolche negative Froͤmmigkeit nahm

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[190/0202] Die Bekehrung im Alter. Das Herz hat allemal den Verſtand betrogen, und wo es hoch gekommen, die Froͤmmigkeit zum Vorwurf ſei- ner Leidenſchaften gemacht. Jch beſinne mich, fuhr er fort, daß ich in meiner erſten Kindheit einen großen Theil an den geringſten Klei- nigkeiten nahm; mein Herz war ein leerer Raum, der von dem erſten Vorwurfe ganz erfuͤllet wurde. Meine Mutter erfuͤllete mich anfangs ganz; nachher wurde ihr Bild bey mir kleiner, weil mein ſilbernes Pfeifgen auch einen kleinen Platz haben wollte. Jch gieng in die Schu- le, und nahm ſo viel Woͤrtergens in dieſen Raum, daß mein ſilbernes Pfeifgen, nur den tauſendſten Theil ſeines vorigen Platzes mehr behaupten konnte. Eine gewiſſe Ruͤhrung, welche ich mit der bewegenden Materie eini- ger Weltweiſen vergleiche, erhielt alle dieſe Bilderchens in ihrem Schwunge. Jch nannte dieſe bewegende Ma- terie einen natuͤrlichen Trieb zum Vergnuͤgen. — Alle Bilder woraus dieſer Trieb ſeinen Vortheil nicht ziehen konnte, blieben liegen und wurden nicht geruͤhret. Jch erblickte einsmals eine Schoͤne, welche meinen ganzen Seelenraum durchaus erfuͤllte. Meine Woͤrtergens, waren ſo ſchwach, daß ſie dieſen eindringenden Reizun- gen nicht den geringſten Widerſtand thaten. Es waͤh- rete beynahe ein Jahr, daß meine vernunftloſe Einoͤde ſich dergeſtalt von dieſer Schoͤne erfuͤllen ließ. Endlich aber kam das Spiel, welches anfangs einen unmerkli- chen Theil in meinem Raum eroberte, aber nach und nach ſo ſehr ſich ausdehnte, daß das Bild meiner Gat- tin, nur einen geringen Theil behauptete, und zuletzt alles Verhaͤltnis verlor. Jetzt merkte ich, daß der Schwamm meiner Leidenſchaften ſeine ganze Ausdehnung verlieret. Jch ſahe, daß ich taͤglich frommer wurde, ſo wie dieſe abnahmen — — Eine ſolche negative Froͤmmigkeit nahm ein

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/202>, abgerufen am 24.11.2024.