geht so weit, daß keiner es fast wagt von sich zu sprechen. Jch habe einen Freund der viel gereiset ist, und vieles erzählen könnte; ich habe einen andern, der lange im Kriege gedient und manche gute Bemerkung gemacht hat, aber beyde sprechen tausendmal lieber von Dingen die sie nicht verstehen, als von den Begebenheiten die sie mit angesehn, und woran sie Antheil genommen haben, um den Vorwurf zu vermeiden, daß sie gern von sich selbst redeten.
Diese übertriebene Vorsicht bringt aber die mehrsten Gesellschaften um ihre beste Nahrung, und da es ebenfalls aus einer zu großen Delicatesse, so fort Medisance heißt, wenn man über seines Nächsten Fehler urtheilet, so bleibt zuletzt gar nichts übrig, als das Spiel, um das große Leere auszufüllen. Anfangs hat man freylich um den Prahlern, Windmachern und Verläumdern das Feld en- ger zu machen, sich auf die strengste Seite wenden müs- sen. Aber endlich sollte man doch auf den güldnen Mit- telweg zurücktreten, und dem Deutschen zutrauen, daß er nicht gleich prahlen oder medisiren wolle, wenn er von sich und andern spricht. Wir werden sonst leicht alle Auf- richtigkeit verbannen, und die Thorheiten der Menschen auf gefährliche Schleichwege führen. So geht zum Bey- spiele jetzt jede üble Nachrede von Hand zu Hand und thut tausendmal mehr Schaden, als wenn man sich öffentlich von einem Fehler seines Nächsten unterhielte. Hier tritt, wann es nöthig ist, noch mancher Vertheidiger der Un- schuld auf, und jeder hüte sich etwas gegen die Wahr- heit hinzuzusetzen, anstatt daß die Blindschleichen sich los- sagen, wenn es zur Untersuchung kommt, und denjeni- gen darauf sitzen lassen, der es einmal gewagt hat, ihre Boßheit zu offenbaren.
Jch
Jch an meinen Freund.
geht ſo weit, daß keiner es faſt wagt von ſich zu ſprechen. Jch habe einen Freund der viel gereiſet iſt, und vieles erzaͤhlen koͤnnte; ich habe einen andern, der lange im Kriege gedient und manche gute Bemerkung gemacht hat, aber beyde ſprechen tauſendmal lieber von Dingen die ſie nicht verſtehen, als von den Begebenheiten die ſie mit angeſehn, und woran ſie Antheil genommen haben, um den Vorwurf zu vermeiden, daß ſie gern von ſich ſelbſt redeten.
Dieſe uͤbertriebene Vorſicht bringt aber die mehrſten Geſellſchaften um ihre beſte Nahrung, und da es ebenfalls aus einer zu großen Delicateſſe, ſo fort Mediſance heißt, wenn man uͤber ſeines Naͤchſten Fehler urtheilet, ſo bleibt zuletzt gar nichts uͤbrig, als das Spiel, um das große Leere auszufuͤllen. Anfangs hat man freylich um den Prahlern, Windmachern und Verlaͤumdern das Feld en- ger zu machen, ſich auf die ſtrengſte Seite wenden muͤſ- ſen. Aber endlich ſollte man doch auf den guͤldnen Mit- telweg zuruͤcktreten, und dem Deutſchen zutrauen, daß er nicht gleich prahlen oder mediſiren wolle, wenn er von ſich und andern ſpricht. Wir werden ſonſt leicht alle Auf- richtigkeit verbannen, und die Thorheiten der Menſchen auf gefaͤhrliche Schleichwege fuͤhren. So geht zum Bey- ſpiele jetzt jede uͤble Nachrede von Hand zu Hand und thut tauſendmal mehr Schaden, als wenn man ſich oͤffentlich von einem Fehler ſeines Naͤchſten unterhielte. Hier tritt, wann es noͤthig iſt, noch mancher Vertheidiger der Un- ſchuld auf, und jeder huͤte ſich etwas gegen die Wahr- heit hinzuzuſetzen, anſtatt daß die Blindſchleichen ſich los- ſagen, wenn es zur Unterſuchung kommt, und denjeni- gen darauf ſitzen laſſen, der es einmal gewagt hat, ihre Boßheit zu offenbaren.
Jch
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Jch an meinen Freund.
geht ſo weit, daß keiner es faſt wagt von ſich zu ſprechen.
Jch habe einen Freund der viel gereiſet iſt, und vieles
erzaͤhlen koͤnnte; ich habe einen andern, der lange im
Kriege gedient und manche gute Bemerkung gemacht hat,
aber beyde ſprechen tauſendmal lieber von Dingen die ſie
nicht verſtehen, als von den Begebenheiten die ſie mit
angeſehn, und woran ſie Antheil genommen haben, um
den Vorwurf zu vermeiden, daß ſie gern von ſich ſelbſt
redeten.
Dieſe uͤbertriebene Vorſicht bringt aber die mehrſten
Geſellſchaften um ihre beſte Nahrung, und da es ebenfalls
aus einer zu großen Delicateſſe, ſo fort Mediſance heißt,
wenn man uͤber ſeines Naͤchſten Fehler urtheilet, ſo bleibt
zuletzt gar nichts uͤbrig, als das Spiel, um das große
Leere auszufuͤllen. Anfangs hat man freylich um den
Prahlern, Windmachern und Verlaͤumdern das Feld en-
ger zu machen, ſich auf die ſtrengſte Seite wenden muͤſ-
ſen. Aber endlich ſollte man doch auf den guͤldnen Mit-
telweg zuruͤcktreten, und dem Deutſchen zutrauen, daß
er nicht gleich prahlen oder mediſiren wolle, wenn er von
ſich und andern ſpricht. Wir werden ſonſt leicht alle Auf-
richtigkeit verbannen, und die Thorheiten der Menſchen
auf gefaͤhrliche Schleichwege fuͤhren. So geht zum Bey-
ſpiele jetzt jede uͤble Nachrede von Hand zu Hand und thut
tauſendmal mehr Schaden, als wenn man ſich oͤffentlich
von einem Fehler ſeines Naͤchſten unterhielte. Hier tritt,
wann es noͤthig iſt, noch mancher Vertheidiger der Un-
ſchuld auf, und jeder huͤte ſich etwas gegen die Wahr-
heit hinzuzuſetzen, anſtatt daß die Blindſchleichen ſich los-
ſagen, wenn es zur Unterſuchung kommt, und denjeni-
gen darauf ſitzen laſſen, der es einmal gewagt hat, ihre
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/114>, abgerufen am 16.07.2024.
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