Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Also soll man mit Verstattung
auf dem geweyhten Kirchhofe zugelassen hat, daß es wohl
eine Untersuchung verdient, ob es besser sey, hierunter stren-
gere als mildere Grundsätze zu befolgen? Viele glauben die
Obrigkeit habe hierunter freye Macht; und die Gemeine
welche sich ihr in solchen Fällen nur gar zu oft widersetzt,
sey durch die gröbsten Vorurtheile verblendet. Allein so
wenig ich dieses gegenwärtig überhaupt bestreiten will: so
sehr scheint mir ein solches Vorurtheil Schonung, und die
Macht der Obrigkeit Einschränkung zu verdienen.

In den mehrsten Fällen heißt es, der Mensch welcher
sich selbst entleibt, sey nicht bey Verstande gewesen; in
zweifelhaften Fällen müsse man die Vermuthung zum Be-
sten fassen; durch die Verweigerung des christlichen Be-
gräbnisses leide der Todte nichts, die unschuldige und be-
trübte Familie aber desto mehr, und der menschliche Rich-
terspruch müsse dem gnädigen Urtheil Gottes nicht vorgrei-
fen, der keinen, um deswillen, daß er sich in dem Augen-
blick einer Verrückung das Leben verkürzet, verdammen
werde.

Gegen alle diese Gründe wende ich nichts ein; ich will
annehmen, daß sich kein Mensch bey völlig gesundem Ver-
stande das Leben nehme, wenn er auch, wie unlängst ein
Deutscher in London, ein eigenhändiges Zeugniß in der Ta-
sche hat, worauf geschrieben stunde, daß er sich mit dem über-
legtesten und reiflichsten Entschlusse die Gurgel abgeschnit-
ten hätte; ich will daher zugeben, daß man immer die Ver-
muthung dahin fassen könne, der Selbstmörder habe bey
allem äußerlichen Scheine der Vernunft und bey kalten
Blute geraset -- wer dieses nicht glauben will, der setze
sich das Messer an die Kehle, und versuche es, ob er sich
bey aller seiner Begierde mir hierin zu widersprechen, nur
die halbe Gurgel abschneiden könne -- ich will zugeben daß
die unschuldige Familie, mehr als die schuldige, leide, und

Gott

Alſo ſoll man mit Verſtattung
auf dem geweyhten Kirchhofe zugelaſſen hat, daß es wohl
eine Unterſuchung verdient, ob es beſſer ſey, hierunter ſtren-
gere als mildere Grundſaͤtze zu befolgen? Viele glauben die
Obrigkeit habe hierunter freye Macht; und die Gemeine
welche ſich ihr in ſolchen Faͤllen nur gar zu oft widerſetzt,
ſey durch die groͤbſten Vorurtheile verblendet. Allein ſo
wenig ich dieſes gegenwaͤrtig uͤberhaupt beſtreiten will: ſo
ſehr ſcheint mir ein ſolches Vorurtheil Schonung, und die
Macht der Obrigkeit Einſchraͤnkung zu verdienen.

In den mehrſten Faͤllen heißt es, der Menſch welcher
ſich ſelbſt entleibt, ſey nicht bey Verſtande geweſen; in
zweifelhaften Faͤllen muͤſſe man die Vermuthung zum Be-
ſten faſſen; durch die Verweigerung des chriſtlichen Be-
graͤbniſſes leide der Todte nichts, die unſchuldige und be-
truͤbte Familie aber deſto mehr, und der menſchliche Rich-
terſpruch muͤſſe dem gnaͤdigen Urtheil Gottes nicht vorgrei-
fen, der keinen, um deswillen, daß er ſich in dem Augen-
blick einer Verruͤckung das Leben verkuͤrzet, verdammen
werde.

Gegen alle dieſe Gruͤnde wende ich nichts ein; ich will
annehmen, daß ſich kein Menſch bey voͤllig geſundem Ver-
ſtande das Leben nehme, wenn er auch, wie unlaͤngſt ein
Deutſcher in London, ein eigenhaͤndiges Zeugniß in der Ta-
ſche hat, worauf geſchrieben ſtunde, daß er ſich mit dem uͤber-
legteſten und reiflichſten Entſchluſſe die Gurgel abgeſchnit-
ten haͤtte; ich will daher zugeben, daß man immer die Ver-
muthung dahin faſſen koͤnne, der Selbſtmoͤrder habe bey
allem aͤußerlichen Scheine der Vernunft und bey kalten
Blute geraſet — wer dieſes nicht glauben will, der ſetze
ſich das Meſſer an die Kehle, und verſuche es, ob er ſich
bey aller ſeiner Begierde mir hierin zu widerſprechen, nur
die halbe Gurgel abſchneiden koͤnne — ich will zugeben daß
die unſchuldige Familie, mehr als die ſchuldige, leide, und

Gott
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0086" n="72"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Al&#x017F;o &#x017F;oll man mit Ver&#x017F;tattung</hi></fw><lb/>
auf dem geweyhten Kirchhofe zugela&#x017F;&#x017F;en hat, daß es wohl<lb/>
eine Unter&#x017F;uchung verdient, ob es be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ey, hierunter &#x017F;tren-<lb/>
gere als mildere Grund&#x017F;a&#x0364;tze zu befolgen? Viele glauben die<lb/>
Obrigkeit habe hierunter freye Macht; und die Gemeine<lb/>
welche &#x017F;ich ihr in &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen nur gar zu oft wider&#x017F;etzt,<lb/>
&#x017F;ey durch die gro&#x0364;b&#x017F;ten Vorurtheile verblendet. Allein &#x017F;o<lb/>
wenig ich die&#x017F;es gegenwa&#x0364;rtig u&#x0364;berhaupt be&#x017F;treiten will: &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr &#x017F;cheint mir ein &#x017F;olches Vorurtheil Schonung, und die<lb/>
Macht der Obrigkeit Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung zu verdienen.</p><lb/>
        <p>In den mehr&#x017F;ten Fa&#x0364;llen heißt es, der Men&#x017F;ch welcher<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t entleibt, &#x017F;ey nicht bey Ver&#x017F;tande gewe&#x017F;en; in<lb/>
zweifelhaften Fa&#x0364;llen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e man die Vermuthung zum Be-<lb/>
&#x017F;ten fa&#x017F;&#x017F;en; durch die Verweigerung des chri&#x017F;tlichen Be-<lb/>
gra&#x0364;bni&#x017F;&#x017F;es leide der Todte nichts, die un&#x017F;chuldige und be-<lb/>
tru&#x0364;bte Familie aber de&#x017F;to mehr, und der men&#x017F;chliche Rich-<lb/>
ter&#x017F;pruch mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e dem gna&#x0364;digen Urtheil Gottes nicht vorgrei-<lb/>
fen, der keinen, um deswillen, daß er &#x017F;ich in dem Augen-<lb/>
blick einer Verru&#x0364;ckung das Leben verku&#x0364;rzet, verdammen<lb/>
werde.</p><lb/>
        <p>Gegen alle die&#x017F;e Gru&#x0364;nde wende ich nichts ein; ich will<lb/>
annehmen, daß &#x017F;ich kein Men&#x017F;ch bey vo&#x0364;llig ge&#x017F;undem Ver-<lb/>
&#x017F;tande das Leben nehme, wenn er auch, wie unla&#x0364;ng&#x017F;t ein<lb/>
Deut&#x017F;cher in London, ein eigenha&#x0364;ndiges Zeugniß in der Ta-<lb/>
&#x017F;che hat, worauf ge&#x017F;chrieben &#x017F;tunde, daß er &#x017F;ich mit dem u&#x0364;ber-<lb/>
legte&#x017F;ten und reiflich&#x017F;ten Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e die Gurgel abge&#x017F;chnit-<lb/>
ten ha&#x0364;tte; ich will daher zugeben, daß man immer die Ver-<lb/>
muthung dahin fa&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nne, der Selb&#x017F;tmo&#x0364;rder habe bey<lb/>
allem a&#x0364;ußerlichen Scheine der Vernunft und bey kalten<lb/>
Blute gera&#x017F;et &#x2014; wer die&#x017F;es nicht glauben will, der &#x017F;etze<lb/>
&#x017F;ich das Me&#x017F;&#x017F;er an die Kehle, und ver&#x017F;uche es, ob er &#x017F;ich<lb/>
bey aller &#x017F;einer Begierde mir hierin zu wider&#x017F;prechen, nur<lb/>
die halbe Gurgel ab&#x017F;chneiden ko&#x0364;nne &#x2014; ich will zugeben daß<lb/>
die un&#x017F;chuldige Familie, mehr als die &#x017F;chuldige, leide, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Gott</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0086] Alſo ſoll man mit Verſtattung auf dem geweyhten Kirchhofe zugelaſſen hat, daß es wohl eine Unterſuchung verdient, ob es beſſer ſey, hierunter ſtren- gere als mildere Grundſaͤtze zu befolgen? Viele glauben die Obrigkeit habe hierunter freye Macht; und die Gemeine welche ſich ihr in ſolchen Faͤllen nur gar zu oft widerſetzt, ſey durch die groͤbſten Vorurtheile verblendet. Allein ſo wenig ich dieſes gegenwaͤrtig uͤberhaupt beſtreiten will: ſo ſehr ſcheint mir ein ſolches Vorurtheil Schonung, und die Macht der Obrigkeit Einſchraͤnkung zu verdienen. In den mehrſten Faͤllen heißt es, der Menſch welcher ſich ſelbſt entleibt, ſey nicht bey Verſtande geweſen; in zweifelhaften Faͤllen muͤſſe man die Vermuthung zum Be- ſten faſſen; durch die Verweigerung des chriſtlichen Be- graͤbniſſes leide der Todte nichts, die unſchuldige und be- truͤbte Familie aber deſto mehr, und der menſchliche Rich- terſpruch muͤſſe dem gnaͤdigen Urtheil Gottes nicht vorgrei- fen, der keinen, um deswillen, daß er ſich in dem Augen- blick einer Verruͤckung das Leben verkuͤrzet, verdammen werde. Gegen alle dieſe Gruͤnde wende ich nichts ein; ich will annehmen, daß ſich kein Menſch bey voͤllig geſundem Ver- ſtande das Leben nehme, wenn er auch, wie unlaͤngſt ein Deutſcher in London, ein eigenhaͤndiges Zeugniß in der Ta- ſche hat, worauf geſchrieben ſtunde, daß er ſich mit dem uͤber- legteſten und reiflichſten Entſchluſſe die Gurgel abgeſchnit- ten haͤtte; ich will daher zugeben, daß man immer die Ver- muthung dahin faſſen koͤnne, der Selbſtmoͤrder habe bey allem aͤußerlichen Scheine der Vernunft und bey kalten Blute geraſet — wer dieſes nicht glauben will, der ſetze ſich das Meſſer an die Kehle, und verſuche es, ob er ſich bey aller ſeiner Begierde mir hierin zu widerſprechen, nur die halbe Gurgel abſchneiden koͤnne — ich will zugeben daß die unſchuldige Familie, mehr als die ſchuldige, leide, und Gott

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/86
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/86>, abgerufen am 27.11.2024.