würde, wenn jede grosse oder kleine bürgerliche Gesellschaft mehr ihre eigene Gesetzgeberin wäre, und sich minder nach einem allgemeinen Plan formirte, das ist eine Frage, die noch immer eine Untersuchung verdient.
Wenn wir auf den grossen Ruhm der vielen kleinen griechischen Republiken zurückgehen, und nach der Ursache forschen, warum so manches kleines Städtgen, was in der heutigen Welt nicht einmal genannt werden würde, ein so grosses Aufsehen gemacht: so ist es diese, daß jedes sich seine eigne religieuse und politische Verfassung erschaffen, und mit Hülfe derselben seine Kräfte zu einer ausserordent- lichen Grösse gebracht habe. Man sieht, daß sie in ihren Plan alles was ihnen die Natur gegeben, auf das schärfste genutzt, und aus jeder Menschensehne ein Ankerseil gemacht haben. Dieses thaten sie ehe sie philosophische Theorien hatten, und blos von ihren Bedürfnissen geleitet, nach der Richtung arbeiteten, welche zu ihrem Ziele führte.
Der Eifer, womit jedes Volk in der Neuigkeit seinen eigenen Erfindungen fröhnet, erhielt die ersten Stifter in ihrer patriotischen Schwärmerey, eine dazu eingerichtete Er- ziehung pflanzte solche auf die Nachkommenschaft fort, und jede Tugend erhielt ihren Werth nach dem Maasse des Nu- tzens, welchen sie dem gemeinen Wesen schafte. Die Größe aller andern so berühmten Nationen scheinet die Folge einer ähnlichen Art zu handeln gewesen zu seyn, ehe allgemeine Religionen, Sittenlehren und Systeme, diese eigenen Fal- ten jeder besondern Völkerschaft ausgeglichen, und die Art der Menschen, zu denken und zu handeln, einförmiger ge- macht haben. So wie die allgemeine Menschenliebe fast alle Bürgerliebe, und die grosse Nationalehre die besondre Ehre jedes Städtgens verschlungen hat; eben so scheinen die allgemeinen Natur- und Völkerrechte die starken Ban- de, welche aus jenen besondern Verfassungen entsprungen,
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ſeine politiſche Verfaſſung geben.
wuͤrde, wenn jede groſſe oder kleine buͤrgerliche Geſellſchaft mehr ihre eigene Geſetzgeberin waͤre, und ſich minder nach einem allgemeinen Plan formirte, das iſt eine Frage, die noch immer eine Unterſuchung verdient.
Wenn wir auf den groſſen Ruhm der vielen kleinen griechiſchen Republiken zuruͤckgehen, und nach der Urſache forſchen, warum ſo manches kleines Staͤdtgen, was in der heutigen Welt nicht einmal genannt werden wuͤrde, ein ſo groſſes Aufſehen gemacht: ſo iſt es dieſe, daß jedes ſich ſeine eigne religieuſe und politiſche Verfaſſung erſchaffen, und mit Huͤlfe derſelben ſeine Kraͤfte zu einer auſſerordent- lichen Groͤſſe gebracht habe. Man ſieht, daß ſie in ihren Plan alles was ihnen die Natur gegeben, auf das ſchaͤrfſte genutzt, und aus jeder Menſchenſehne ein Ankerſeil gemacht haben. Dieſes thaten ſie ehe ſie philoſophiſche Theorien hatten, und blos von ihren Beduͤrfniſſen geleitet, nach der Richtung arbeiteten, welche zu ihrem Ziele fuͤhrte.
Der Eifer, womit jedes Volk in der Neuigkeit ſeinen eigenen Erfindungen froͤhnet, erhielt die erſten Stifter in ihrer patriotiſchen Schwaͤrmerey, eine dazu eingerichtete Er- ziehung pflanzte ſolche auf die Nachkommenſchaft fort, und jede Tugend erhielt ihren Werth nach dem Maaſſe des Nu- tzens, welchen ſie dem gemeinen Weſen ſchafte. Die Groͤße aller andern ſo beruͤhmten Nationen ſcheinet die Folge einer aͤhnlichen Art zu handeln geweſen zu ſeyn, ehe allgemeine Religionen, Sittenlehren und Syſteme, dieſe eigenen Fal- ten jeder beſondern Voͤlkerſchaft ausgeglichen, und die Art der Menſchen, zu denken und zu handeln, einfoͤrmiger ge- macht haben. So wie die allgemeine Menſchenliebe faſt alle Buͤrgerliebe, und die groſſe Nationalehre die beſondre Ehre jedes Staͤdtgens verſchlungen hat; eben ſo ſcheinen die allgemeinen Natur- und Voͤlkerrechte die ſtarken Ban- de, welche aus jenen beſondern Verfaſſungen entſprungen,
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ſeine politiſche Verfaſſung geben.
wuͤrde, wenn jede groſſe oder kleine buͤrgerliche Geſellſchaft
mehr ihre eigene Geſetzgeberin waͤre, und ſich minder nach
einem allgemeinen Plan formirte, das iſt eine Frage, die
noch immer eine Unterſuchung verdient.
Wenn wir auf den groſſen Ruhm der vielen kleinen
griechiſchen Republiken zuruͤckgehen, und nach der Urſache
forſchen, warum ſo manches kleines Staͤdtgen, was in der
heutigen Welt nicht einmal genannt werden wuͤrde, ein ſo
groſſes Aufſehen gemacht: ſo iſt es dieſe, daß jedes ſich
ſeine eigne religieuſe und politiſche Verfaſſung erſchaffen,
und mit Huͤlfe derſelben ſeine Kraͤfte zu einer auſſerordent-
lichen Groͤſſe gebracht habe. Man ſieht, daß ſie in ihren
Plan alles was ihnen die Natur gegeben, auf das ſchaͤrfſte
genutzt, und aus jeder Menſchenſehne ein Ankerſeil gemacht
haben. Dieſes thaten ſie ehe ſie philoſophiſche Theorien
hatten, und blos von ihren Beduͤrfniſſen geleitet, nach der
Richtung arbeiteten, welche zu ihrem Ziele fuͤhrte.
Der Eifer, womit jedes Volk in der Neuigkeit ſeinen
eigenen Erfindungen froͤhnet, erhielt die erſten Stifter in
ihrer patriotiſchen Schwaͤrmerey, eine dazu eingerichtete Er-
ziehung pflanzte ſolche auf die Nachkommenſchaft fort, und
jede Tugend erhielt ihren Werth nach dem Maaſſe des Nu-
tzens, welchen ſie dem gemeinen Weſen ſchafte. Die Groͤße
aller andern ſo beruͤhmten Nationen ſcheinet die Folge einer
aͤhnlichen Art zu handeln geweſen zu ſeyn, ehe allgemeine
Religionen, Sittenlehren und Syſteme, dieſe eigenen Fal-
ten jeder beſondern Voͤlkerſchaft ausgeglichen, und die Art
der Menſchen, zu denken und zu handeln, einfoͤrmiger ge-
macht haben. So wie die allgemeine Menſchenliebe faſt
alle Buͤrgerliebe, und die groſſe Nationalehre die beſondre
Ehre jedes Staͤdtgens verſchlungen hat; eben ſo ſcheinen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und vermehrte Auflage“ des 3. Teils von Justus Mösers „Patriotischen Phantasien“ zur Digitalisierung ausgewählt. Sie erschien 1778, also im selben Jahr wie die Erstauflage dieses Bandes, und ist bis S. 260 seitenidentisch mit dieser. Die Abschnitte LX („Gedanken über den westphälischen Leibeigenthum“) bis LXVIII („Gedanken über den Stillestand der Leibeignen“) sind Ergänzungen gegenüber der ersten Auflage.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/81>, abgerufen am 27.07.2024.
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