Sey sie ruhig, meine liebe Jungfer; der Brand ist nicht im Brodkorn, sondern nur unter den Nelken, und von diesen wirft der Gärtner doch immer einen Theil weg, ohne Saamen und Ableger von ihnen zu verlangen. Wo wollte es auch hinaus, wenn sie sich so stark, wie der Weitzen ver- mehrten? Vielleicht hat die Natur ihre guten Absichten da- bey; daß sie die zartesten Blumen nicht wider die Nachtfrö- ste gehärtet hat. Das Geschlecht wird darum nicht verloh- ren gehen, sondern noch immer eine und die andere hinter der Glasscheibe blühen, und damit sind die Liebhaber auch zufrieden. Also mache sie nur, daß das gute Kind in dem nächsten Maymonat einem süssen jungen Herrn in die Au- gen falle, und mit demselben im Mondenschein unter einem blühenden Apfelbaum an den Silberbach komme. Wird sie dann in sanften Entzückungen dahin schmelzen, so tröste sie sich damit, daß so wie die verzärtelten Gewächse aus- sterben, stärkere an ihre Stette kommen, und Sie, meine gute Jungfer, um eine Stuffe höher steigen werde. Hiemit Gott befohlen.
XIX. Sollte nicht in jedem Staate ein Obrig- keitlich angesetzter Gewissensrath seyn?
Billig sollte jeder Staat einen eignen von der Obrigkeit verordneten Gewissensrath haben, an welchen man sich in schweren Fällen wenden, und bey dessen Ausspruche man sich förmlich beruhigen könnte. Vielleicht würde da- durch mancher unnützer Proceß vermieden, und manche Un-
gerech-
Vor die Empfindſamen.
Antwort.
Sey ſie ruhig, meine liebe Jungfer; der Brand iſt nicht im Brodkorn, ſondern nur unter den Nelken, und von dieſen wirft der Gaͤrtner doch immer einen Theil weg, ohne Saamen und Ableger von ihnen zu verlangen. Wo wollte es auch hinaus, wenn ſie ſich ſo ſtark, wie der Weitzen ver- mehrten? Vielleicht hat die Natur ihre guten Abſichten da- bey; daß ſie die zarteſten Blumen nicht wider die Nachtfroͤ- ſte gehaͤrtet hat. Das Geſchlecht wird darum nicht verloh- ren gehen, ſondern noch immer eine und die andere hinter der Glasſcheibe bluͤhen, und damit ſind die Liebhaber auch zufrieden. Alſo mache ſie nur, daß das gute Kind in dem naͤchſten Maymonat einem ſuͤſſen jungen Herrn in die Au- gen falle, und mit demſelben im Mondenſchein unter einem bluͤhenden Apfelbaum an den Silberbach komme. Wird ſie dann in ſanften Entzuͤckungen dahin ſchmelzen, ſo troͤſte ſie ſich damit, daß ſo wie die verzaͤrtelten Gewaͤchſe aus- ſterben, ſtaͤrkere an ihre Stette kommen, und Sie, meine gute Jungfer, um eine Stuffe hoͤher ſteigen werde. Hiemit Gott befohlen.
XIX. Sollte nicht in jedem Staate ein Obrig- keitlich angeſetzter Gewiſſensrath ſeyn?
Billig ſollte jeder Staat einen eignen von der Obrigkeit verordneten Gewiſſensrath haben, an welchen man ſich in ſchweren Faͤllen wenden, und bey deſſen Ausſpruche man ſich foͤrmlich beruhigen koͤnnte. Vielleicht wuͤrde da- durch mancher unnuͤtzer Proceß vermieden, und manche Un-
gerech-
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Vor die Empfindſamen.
Antwort.
Sey ſie ruhig, meine liebe Jungfer; der Brand iſt nicht
im Brodkorn, ſondern nur unter den Nelken, und von
dieſen wirft der Gaͤrtner doch immer einen Theil weg, ohne
Saamen und Ableger von ihnen zu verlangen. Wo wollte
es auch hinaus, wenn ſie ſich ſo ſtark, wie der Weitzen ver-
mehrten? Vielleicht hat die Natur ihre guten Abſichten da-
bey; daß ſie die zarteſten Blumen nicht wider die Nachtfroͤ-
ſte gehaͤrtet hat. Das Geſchlecht wird darum nicht verloh-
ren gehen, ſondern noch immer eine und die andere hinter
der Glasſcheibe bluͤhen, und damit ſind die Liebhaber auch
zufrieden. Alſo mache ſie nur, daß das gute Kind in dem
naͤchſten Maymonat einem ſuͤſſen jungen Herrn in die Au-
gen falle, und mit demſelben im Mondenſchein unter einem
bluͤhenden Apfelbaum an den Silberbach komme. Wird
ſie dann in ſanften Entzuͤckungen dahin ſchmelzen, ſo troͤſte
ſie ſich damit, daß ſo wie die verzaͤrtelten Gewaͤchſe aus-
ſterben, ſtaͤrkere an ihre Stette kommen, und Sie, meine
gute Jungfer, um eine Stuffe hoͤher ſteigen werde. Hiemit
Gott befohlen.
XIX.
Sollte nicht in jedem Staate ein Obrig-
keitlich angeſetzter Gewiſſensrath ſeyn?
Billig ſollte jeder Staat einen eignen von der Obrigkeit
verordneten Gewiſſensrath haben, an welchen man
ſich in ſchweren Faͤllen wenden, und bey deſſen Ausſpruche
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]
Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und vermehrte Auflage“ des 3. Teils von Justus Mösers „Patriotischen Phantasien“ zur Digitalisierung ausgewählt. Sie erschien 1778, also im selben Jahr wie die Erstauflage dieses Bandes, und ist bis S. 260 seitenidentisch mit dieser. Die Abschnitte LX („Gedanken über den westphälischen Leibeigenthum“) bis LXVIII („Gedanken über den Stillestand der Leibeignen“) sind Ergänzungen gegenüber der ersten Auflage.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/77>, abgerufen am 29.12.2024.
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