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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

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Die Regeln behalten ihren grossen Werth.
schulzen, und fragte ihn: was ihn doch in aller Welt be-
wogen hätte, allen Leuten einerley Weg zu zeigen? ob nicht
jeder seinen eignen hätte? und ob man überhaupt sagen
könnte, daß es richtige Wege gebe? er z. B. wollte auf dem
Seile über Graben und Hecken nicht allein weit geschwinder
und kürzer, sondern auch zu aller Menschen Bewunderung
dahin kommen. O! antwortete der Schulze: unser Weg-
weiser zeigt nun einmahl den gemeinsten, sichersten und eben-
sten Weg, und wenn derselbe nicht gewiesen würde, so wüste
man ja nicht einmal, wie viel kürzer und geschwinder ein an-
drer wäre.

Indem kam ein Jüngling auf einem raschen Pferde,
und setzte, während der Zeit daß der Seiltänzer seine Linien
spannete, über Zäune und Graben weg. Hier sagte der
Schulze zum Seiltänzer: seht guter Freund, der kommt
noch geschwinder und kürzer über weg als ihr, und ich be-
wundre ihn eben so sehr, was dünkt euch, wenn wir den
Wegweiser so stelleten, daß alle, die in die Stadt wollen,
diesem folgen müsten?

Ihr seyd ein einfältiger Mann, versetzte jener, wie viele
würden nicht den Hals brechen, oder in den tiefen Gräben
stecken bleiben, wenn ihr dieses thätet? das meyne ich auch,
beschloß der Schulze; und so ist es wohl am besten, daß
wir jedem einen ebnen richtigen und sichern Weg zeigen,
und uns um diejenigen, die auf dem Seile tanzen, oder
mit ihren Pferden über Hecken und Graben setzen können,
nicht bekümmern. Ein Philosoph, der ihre Unterredung
mit angehört hatte, machte hierüber die Anmerkung, daß
die gemeinen Wege oder Regeln immer nöthig blieben, wenn
die Genies sich auch noch so weit davon entfernten.



LX.

Die Regeln behalten ihren groſſen Werth.
ſchulzen, und fragte ihn: was ihn doch in aller Welt be-
wogen haͤtte, allen Leuten einerley Weg zu zeigen? ob nicht
jeder ſeinen eignen haͤtte? und ob man uͤberhaupt ſagen
koͤnnte, daß es richtige Wege gebe? er z. B. wollte auf dem
Seile uͤber Graben und Hecken nicht allein weit geſchwinder
und kuͤrzer, ſondern auch zu aller Menſchen Bewunderung
dahin kommen. O! antwortete der Schulze: unſer Weg-
weiſer zeigt nun einmahl den gemeinſten, ſicherſten und eben-
ſten Weg, und wenn derſelbe nicht gewieſen wuͤrde, ſo wuͤſte
man ja nicht einmal, wie viel kuͤrzer und geſchwinder ein an-
drer waͤre.

Indem kam ein Juͤngling auf einem raſchen Pferde,
und ſetzte, waͤhrend der Zeit daß der Seiltaͤnzer ſeine Linien
ſpannete, uͤber Zaͤune und Graben weg. Hier ſagte der
Schulze zum Seiltaͤnzer: ſeht guter Freund, der kommt
noch geſchwinder und kuͤrzer uͤber weg als ihr, und ich be-
wundre ihn eben ſo ſehr, was duͤnkt euch, wenn wir den
Wegweiſer ſo ſtelleten, daß alle, die in die Stadt wollen,
dieſem folgen muͤſten?

Ihr ſeyd ein einfaͤltiger Mann, verſetzte jener, wie viele
wuͤrden nicht den Hals brechen, oder in den tiefen Graͤben
ſtecken bleiben, wenn ihr dieſes thaͤtet? das meyne ich auch,
beſchloß der Schulze; und ſo iſt es wohl am beſten, daß
wir jedem einen ebnen richtigen und ſichern Weg zeigen,
und uns um diejenigen, die auf dem Seile tanzen, oder
mit ihren Pferden uͤber Hecken und Graben ſetzen koͤnnen,
nicht bekuͤmmern. Ein Philoſoph, der ihre Unterredung
mit angehoͤrt hatte, machte hieruͤber die Anmerkung, daß
die gemeinen Wege oder Regeln immer noͤthig blieben, wenn
die Genies ſich auch noch ſo weit davon entfernten.



LX.
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[260/0274] Die Regeln behalten ihren groſſen Werth. ſchulzen, und fragte ihn: was ihn doch in aller Welt be- wogen haͤtte, allen Leuten einerley Weg zu zeigen? ob nicht jeder ſeinen eignen haͤtte? und ob man uͤberhaupt ſagen koͤnnte, daß es richtige Wege gebe? er z. B. wollte auf dem Seile uͤber Graben und Hecken nicht allein weit geſchwinder und kuͤrzer, ſondern auch zu aller Menſchen Bewunderung dahin kommen. O! antwortete der Schulze: unſer Weg- weiſer zeigt nun einmahl den gemeinſten, ſicherſten und eben- ſten Weg, und wenn derſelbe nicht gewieſen wuͤrde, ſo wuͤſte man ja nicht einmal, wie viel kuͤrzer und geſchwinder ein an- drer waͤre. Indem kam ein Juͤngling auf einem raſchen Pferde, und ſetzte, waͤhrend der Zeit daß der Seiltaͤnzer ſeine Linien ſpannete, uͤber Zaͤune und Graben weg. Hier ſagte der Schulze zum Seiltaͤnzer: ſeht guter Freund, der kommt noch geſchwinder und kuͤrzer uͤber weg als ihr, und ich be- wundre ihn eben ſo ſehr, was duͤnkt euch, wenn wir den Wegweiſer ſo ſtelleten, daß alle, die in die Stadt wollen, dieſem folgen muͤſten? Ihr ſeyd ein einfaͤltiger Mann, verſetzte jener, wie viele wuͤrden nicht den Hals brechen, oder in den tiefen Graͤben ſtecken bleiben, wenn ihr dieſes thaͤtet? das meyne ich auch, beſchloß der Schulze; und ſo iſt es wohl am beſten, daß wir jedem einen ebnen richtigen und ſichern Weg zeigen, und uns um diejenigen, die auf dem Seile tanzen, oder mit ihren Pferden uͤber Hecken und Graben ſetzen koͤnnen, nicht bekuͤmmern. Ein Philoſoph, der ihre Unterredung mit angehoͤrt hatte, machte hieruͤber die Anmerkung, daß die gemeinen Wege oder Regeln immer noͤthig blieben, wenn die Genies ſich auch noch ſo weit davon entfernten. LX.

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/274>, abgerufen am 26.11.2024.