Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.Das abgeschaffte Herkommen. nem frommen Ackersmann das mindeste Leid zugefüget hatte,sich allezeit dagegen gesetzet, so oft sein Sohn den Beyfall der gnädigen Frau Mutter erschmeichelt hatte. Denn damals richtete sich der Haushalt noch nach den Befehlen des Herrn. Endlich aber wagte er es doch, den Gegenstand seiner ju- Mutter und Tochter wußten damals noch nicht was wir Der junge Herr erbot sich indeß gegen die Mutter bey rit- ben a) Mit den gutsherrlichen Flur- oder Lagerbüchern, welche
gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts Mode wurden und wozu in dem gegenwärtigen schön groß Papier ge- Das abgeſchaffte Herkommen. nem frommen Ackersmann das mindeſte Leid zugefuͤget hatte,ſich allezeit dagegen geſetzet, ſo oft ſein Sohn den Beyfall der gnaͤdigen Frau Mutter erſchmeichelt hatte. Denn damals richtete ſich der Haushalt noch nach den Befehlen des Herrn. Endlich aber wagte er es doch, den Gegenſtand ſeiner ju- Mutter und Tochter wußten damals noch nicht was wir Der junge Herr erbot ſich indeß gegen die Mutter bey rit- ben a) Mit den gutsherrlichen Flur- oder Lagerbuͤchern, welche
gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts Mode wurden und wozu in dem gegenwaͤrtigen ſchoͤn groß Papier ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0512" n="494"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das abgeſchaffte Herkommen.</hi></fw><lb/> nem frommen Ackersmann das mindeſte Leid zugefuͤget hatte,<lb/> ſich allezeit dagegen geſetzet, ſo oft ſein Sohn den Beyfall der<lb/> gnaͤdigen Frau Mutter erſchmeichelt hatte. Denn damals<lb/> richtete ſich der Haushalt noch nach den Befehlen des Herrn.</p><lb/> <p>Endlich aber wagte er es doch, den Gegenſtand ſeiner ju-<lb/> gendlichen Wuͤnſche, da er ſie auf gruͤner Heide allein fand,<lb/> um einen Kuß anzuſprechen, und vielleicht haͤtte ſie ihm ſol-<lb/> chen in aller Unſchuld nicht verwehrt, wenigſtens hat man<lb/> nicht gehoͤrt, daß ſie ein ſauers Geſicht dazu gemacht; wenn<lb/> nicht die Mutter, welche hinter der Hecke ſtand, aufs eifrigſte<lb/> ihrer Tochter zugerufen hatte: <hi rendition="#fr">Kind thue es nicht, es moͤchte<lb/> eine Pflicht daraus werden.</hi></p><lb/> <p>Mutter und Tochter wußten damals noch nicht was wir<lb/> jetzt wiſſen, daß ein Kuß aus Pflicht gegeben, niemals ſo<lb/> ſtrenge als ein andrer Hofdienſt gefordert werde. Ihr Wahn<lb/> war alſo leicht und um ſo vielmehr zu entſchuldigen, da ſie<lb/> von Jugend auf in dem Glauben erzogen waren, daß derje-<lb/> nige, der ſeinen Hof mit einer neuen Pflicht beluͤde, ewig auf<lb/> demſelben ſpuken gehen muͤßte; ein Glaube, der ihnen jeder-<lb/> zeit mehrere Dienſte als alle Gruͤnde, womit die geringen<lb/> Leute ſelten recht umzugehen wiſſen, geleiſtet hatte.</p><lb/> <p>Der junge Herr erbot ſich indeß gegen die Mutter bey rit-<lb/> terlichen Ehren ihrer Tochter den Kuß ſo insgeheim zu geben,<lb/> daß niemals ein Zeuge daruͤber gefuͤhret werden koͤnnte. Er<lb/> verſprach in allem Ernſt, weder ſeinem Herrn Vater noch ſei-<lb/> ner Frau Mutter das mindeſte davon zu ſagen, und verſicherte,<lb/> daß der Kuß ſolchergeſtalt niemals ins Lagerbuch <note xml:id="seg2pn_9_1" next="#seg2pn_9_2" place="foot" n="a)">Mit den gutsherrlichen <hi rendition="#fr">Flur-</hi> oder <hi rendition="#fr">Lagerbuͤchern</hi>, welche<lb/> gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts Mode wurden<lb/> und wozu in dem gegenwaͤrtigen ſchoͤn groß Papier ge-</note> geſchrie-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ben</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [494/0512]
Das abgeſchaffte Herkommen.
nem frommen Ackersmann das mindeſte Leid zugefuͤget hatte,
ſich allezeit dagegen geſetzet, ſo oft ſein Sohn den Beyfall der
gnaͤdigen Frau Mutter erſchmeichelt hatte. Denn damals
richtete ſich der Haushalt noch nach den Befehlen des Herrn.
Endlich aber wagte er es doch, den Gegenſtand ſeiner ju-
gendlichen Wuͤnſche, da er ſie auf gruͤner Heide allein fand,
um einen Kuß anzuſprechen, und vielleicht haͤtte ſie ihm ſol-
chen in aller Unſchuld nicht verwehrt, wenigſtens hat man
nicht gehoͤrt, daß ſie ein ſauers Geſicht dazu gemacht; wenn
nicht die Mutter, welche hinter der Hecke ſtand, aufs eifrigſte
ihrer Tochter zugerufen hatte: Kind thue es nicht, es moͤchte
eine Pflicht daraus werden.
Mutter und Tochter wußten damals noch nicht was wir
jetzt wiſſen, daß ein Kuß aus Pflicht gegeben, niemals ſo
ſtrenge als ein andrer Hofdienſt gefordert werde. Ihr Wahn
war alſo leicht und um ſo vielmehr zu entſchuldigen, da ſie
von Jugend auf in dem Glauben erzogen waren, daß derje-
nige, der ſeinen Hof mit einer neuen Pflicht beluͤde, ewig auf
demſelben ſpuken gehen muͤßte; ein Glaube, der ihnen jeder-
zeit mehrere Dienſte als alle Gruͤnde, womit die geringen
Leute ſelten recht umzugehen wiſſen, geleiſtet hatte.
Der junge Herr erbot ſich indeß gegen die Mutter bey rit-
terlichen Ehren ihrer Tochter den Kuß ſo insgeheim zu geben,
daß niemals ein Zeuge daruͤber gefuͤhret werden koͤnnte. Er
verſprach in allem Ernſt, weder ſeinem Herrn Vater noch ſei-
ner Frau Mutter das mindeſte davon zu ſagen, und verſicherte,
daß der Kuß ſolchergeſtalt niemals ins Lagerbuch a) geſchrie-
ben
a) Mit den gutsherrlichen Flur- oder Lagerbuͤchern, welche
gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts Mode wurden
und wozu in dem gegenwaͤrtigen ſchoͤn groß Papier ge-
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