LXXIX. Ueber die Erziehung der Land- leute Kinder.
Ich weis nicht, was unsern Herrn Cantor in den Kopf kommt. Alle Jungen und Mädgen sollen lesen und schreiben lernen; dabey predigt er ihnen einen Catechismus, der ist so dick wie mein Gesangbuch, und wenn er von der Kinderzucht spricht: so sagt er weiter nichts, als wie glücklich die Kinder sind, die nicht wie die Heyden aufwachsen, sondern lesen und schreiben und auf alle Fragen antworten können.
Nun soll mich zwar der Himmel wohl dafür bewahren, daß ich unsern Herrn Cantor meistern sollte. Allein ich fühle doch, daß die Kinder mehr zur Handarbeit angeführet und dazu von Jugend auf gewöhnet werden müßten: ich fühle, daß das viele Buchstabiren und Schulgehen unsere Jugend vom Spinnerocken zieht, und daß jetzt kein einziger Junge mehr im Kirchspiele sey, der täglich drey Strümpfe knütten kan, da sie es in meiner Jugend doch alle konnten. Ich habe nun mein achzigstes Jahr erreicht, und kan sagen, daß ich die Welt von hinten und von forn gesehen habe. Allein unter allen, die mit mir aufgewachsen sind, war kein einziger, der schreiben lernte. Man sahe dies als eine Art von bürgerlicher Beschäftigung an, die blos in den Städten und von Leuten, die keinen Ackerbau und keine Viehzucht hätten, getrieben werden müßte. Das Lesen, wie mir mein Vater sagte, wäre erst in seiner Jugend unter den Landleuten Mode geworden; und dieser hätte es noch wohl von seinem Vater gehört, daß in seiner Kindheit das ganze Jahr hindurch nur drey Gesänge
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LXXIX. Ueber die Erziehung der Land- leute Kinder.
Ich weis nicht, was unſern Herrn Cantor in den Kopf kommt. Alle Jungen und Maͤdgen ſollen leſen und ſchreiben lernen; dabey predigt er ihnen einen Catechiſmus, der iſt ſo dick wie mein Geſangbuch, und wenn er von der Kinderzucht ſpricht: ſo ſagt er weiter nichts, als wie gluͤcklich die Kinder ſind, die nicht wie die Heyden aufwachſen, ſondern leſen und ſchreiben und auf alle Fragen antworten koͤnnen.
Nun ſoll mich zwar der Himmel wohl dafuͤr bewahren, daß ich unſern Herrn Cantor meiſtern ſollte. Allein ich fuͤhle doch, daß die Kinder mehr zur Handarbeit angefuͤhret und dazu von Jugend auf gewoͤhnet werden muͤßten: ich fuͤhle, daß das viele Buchſtabiren und Schulgehen unſere Jugend vom Spinnerocken zieht, und daß jetzt kein einziger Junge mehr im Kirchſpiele ſey, der taͤglich drey Struͤmpfe knuͤtten kan, da ſie es in meiner Jugend doch alle konnten. Ich habe nun mein achzigſtes Jahr erreicht, und kan ſagen, daß ich die Welt von hinten und von forn geſehen habe. Allein unter allen, die mit mir aufgewachſen ſind, war kein einziger, der ſchreiben lernte. Man ſahe dies als eine Art von buͤrgerlicher Beſchaͤftigung an, die blos in den Staͤdten und von Leuten, die keinen Ackerbau und keine Viehzucht haͤtten, getrieben werden muͤßte. Das Leſen, wie mir mein Vater ſagte, waͤre erſt in ſeiner Jugend unter den Landleuten Mode geworden; und dieſer haͤtte es noch wohl von ſeinem Vater gehoͤrt, daß in ſeiner Kindheit das ganze Jahr hindurch nur drey Geſaͤnge
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LXXIX.
Ueber die Erziehung der Land-
leute Kinder.
Ich weis nicht, was unſern Herrn Cantor in den Kopf
kommt. Alle Jungen und Maͤdgen ſollen leſen und
ſchreiben lernen; dabey predigt er ihnen einen Catechiſmus,
der iſt ſo dick wie mein Geſangbuch, und wenn er von der
Kinderzucht ſpricht: ſo ſagt er weiter nichts, als wie gluͤcklich
die Kinder ſind, die nicht wie die Heyden aufwachſen, ſondern
leſen und ſchreiben und auf alle Fragen antworten koͤnnen.
Nun ſoll mich zwar der Himmel wohl dafuͤr bewahren,
daß ich unſern Herrn Cantor meiſtern ſollte. Allein ich fuͤhle
doch, daß die Kinder mehr zur Handarbeit angefuͤhret und
dazu von Jugend auf gewoͤhnet werden muͤßten: ich fuͤhle,
daß das viele Buchſtabiren und Schulgehen unſere Jugend
vom Spinnerocken zieht, und daß jetzt kein einziger Junge
mehr im Kirchſpiele ſey, der taͤglich drey Struͤmpfe knuͤtten
kan, da ſie es in meiner Jugend doch alle konnten. Ich habe
nun mein achzigſtes Jahr erreicht, und kan ſagen, daß ich die
Welt von hinten und von forn geſehen habe. Allein unter
allen, die mit mir aufgewachſen ſind, war kein einziger, der
ſchreiben lernte. Man ſahe dies als eine Art von buͤrgerlicher
Beſchaͤftigung an, die blos in den Staͤdten und von Leuten,
die keinen Ackerbau und keine Viehzucht haͤtten, getrieben
werden muͤßte. Das Leſen, wie mir mein Vater ſagte, waͤre
erſt in ſeiner Jugend unter den Landleuten Mode geworden;
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/459>, abgerufen am 22.11.2024.
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