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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776.

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an einen philosophischen Kinderlehrer.
nicht eben so gut durch ein: was werden die Leute davon
sagen
, als durch eine Vorhaltung ihrer Pflichten zum Guten
leiten soll. Wenn wir aufrichtig reden wollen: so müssen wir
gestehen, daß bey jedem Menschen die Empfindung der Ehre
am stärksten unter allen würke, und daß die Ehre eine ehr-
liche Frau zu seyn und dafür gehalten zu werden, mehr gutes
thue, als die Pflicht es zu seyn.

Wenn mein ältestes Mädgen, was jetzt 16 Jahr alt ist,
einen zärtlichen obgleich noch sehr unschuldigen Blick auf einen
jungen Menschen schießen läßt: so renne ich ihr, so bald ich
sie allein fassen kan, mit einigen Sarcasmen zu Leibe. Da
ist sie eine verliebte Thorin, der junge Mensch ein Laffe, der
noch kaum der Ruthe entronnen ist; da frage ich sie: was
diese und jene, so ihren zärtlichen Blick wahrgenommen, wohl
von ihr gedacht habe, und in welchen Ruf sie sich setzen werde,
wenn sie schon so früh geschmeidig werde? -- Auf diese
Weise suche ich ihre ganze Ehrbegierde zu reitzen, und wenn
es denn auch Zeit ist; so halte ich ihr ihre Pflichten vor. Ich
verlasse mich aber in der That mehr auf meine Sarcasmen,
und auf ihre Empfindungen von Ehre, als auf die Würkung
der übrigen Sittenlehren. Jede ehrliche Hausmutter wird
Ihnen hiebey sagen, daß ich auf diese Art mehr ausrichte,
und das zarte Alter meiner Kinder glücklicher zum wahren
Alter der Ueberlegung durchführe, als alle die Hofmeister
und Hofmeisterinnen, welche die fürstlichen Prinzen und
Prinzessinen mit kalten Vorstellungen aus der Religion und
Sittenlehre unterhalten, und in diesem Jahrhundert eben
nicht viel Ehre eingelegt haben.

Die große Mühe, den Kindern von allem deutliche Begriffe
zu geben, kan ich noch weniger billigen, so strenge auch unsre
Neuern in dieser ihrer Forderung sind. Ein deutlicher Be-

griff
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an einen philoſophiſchen Kinderlehrer.
nicht eben ſo gut durch ein: was werden die Leute davon
ſagen
, als durch eine Vorhaltung ihrer Pflichten zum Guten
leiten ſoll. Wenn wir aufrichtig reden wollen: ſo muͤſſen wir
geſtehen, daß bey jedem Menſchen die Empfindung der Ehre
am ſtaͤrkſten unter allen wuͤrke, und daß die Ehre eine ehr-
liche Frau zu ſeyn und dafuͤr gehalten zu werden, mehr gutes
thue, als die Pflicht es zu ſeyn.

Wenn mein aͤlteſtes Maͤdgen, was jetzt 16 Jahr alt iſt,
einen zaͤrtlichen obgleich noch ſehr unſchuldigen Blick auf einen
jungen Menſchen ſchießen laͤßt: ſo renne ich ihr, ſo bald ich
ſie allein faſſen kan, mit einigen Sarcaſmen zu Leibe. Da
iſt ſie eine verliebte Thorin, der junge Menſch ein Laffe, der
noch kaum der Ruthe entronnen iſt; da frage ich ſie: was
dieſe und jene, ſo ihren zaͤrtlichen Blick wahrgenommen, wohl
von ihr gedacht habe, und in welchen Ruf ſie ſich ſetzen werde,
wenn ſie ſchon ſo fruͤh geſchmeidig werde? — Auf dieſe
Weiſe ſuche ich ihre ganze Ehrbegierde zu reitzen, und wenn
es denn auch Zeit iſt; ſo halte ich ihr ihre Pflichten vor. Ich
verlaſſe mich aber in der That mehr auf meine Sarcaſmen,
und auf ihre Empfindungen von Ehre, als auf die Wuͤrkung
der uͤbrigen Sittenlehren. Jede ehrliche Hausmutter wird
Ihnen hiebey ſagen, daß ich auf dieſe Art mehr ausrichte,
und das zarte Alter meiner Kinder gluͤcklicher zum wahren
Alter der Ueberlegung durchfuͤhre, als alle die Hofmeiſter
und Hofmeiſterinnen, welche die fuͤrſtlichen Prinzen und
Prinzeſſinen mit kalten Vorſtellungen aus der Religion und
Sittenlehre unterhalten, und in dieſem Jahrhundert eben
nicht viel Ehre eingelegt haben.

Die große Muͤhe, den Kindern von allem deutliche Begriffe
zu geben, kan ich noch weniger billigen, ſo ſtrenge auch unſre
Neuern in dieſer ihrer Forderung ſind. Ein deutlicher Be-

griff
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[437/0455] an einen philoſophiſchen Kinderlehrer. nicht eben ſo gut durch ein: was werden die Leute davon ſagen, als durch eine Vorhaltung ihrer Pflichten zum Guten leiten ſoll. Wenn wir aufrichtig reden wollen: ſo muͤſſen wir geſtehen, daß bey jedem Menſchen die Empfindung der Ehre am ſtaͤrkſten unter allen wuͤrke, und daß die Ehre eine ehr- liche Frau zu ſeyn und dafuͤr gehalten zu werden, mehr gutes thue, als die Pflicht es zu ſeyn. Wenn mein aͤlteſtes Maͤdgen, was jetzt 16 Jahr alt iſt, einen zaͤrtlichen obgleich noch ſehr unſchuldigen Blick auf einen jungen Menſchen ſchießen laͤßt: ſo renne ich ihr, ſo bald ich ſie allein faſſen kan, mit einigen Sarcaſmen zu Leibe. Da iſt ſie eine verliebte Thorin, der junge Menſch ein Laffe, der noch kaum der Ruthe entronnen iſt; da frage ich ſie: was dieſe und jene, ſo ihren zaͤrtlichen Blick wahrgenommen, wohl von ihr gedacht habe, und in welchen Ruf ſie ſich ſetzen werde, wenn ſie ſchon ſo fruͤh geſchmeidig werde? — Auf dieſe Weiſe ſuche ich ihre ganze Ehrbegierde zu reitzen, und wenn es denn auch Zeit iſt; ſo halte ich ihr ihre Pflichten vor. Ich verlaſſe mich aber in der That mehr auf meine Sarcaſmen, und auf ihre Empfindungen von Ehre, als auf die Wuͤrkung der uͤbrigen Sittenlehren. Jede ehrliche Hausmutter wird Ihnen hiebey ſagen, daß ich auf dieſe Art mehr ausrichte, und das zarte Alter meiner Kinder gluͤcklicher zum wahren Alter der Ueberlegung durchfuͤhre, als alle die Hofmeiſter und Hofmeiſterinnen, welche die fuͤrſtlichen Prinzen und Prinzeſſinen mit kalten Vorſtellungen aus der Religion und Sittenlehre unterhalten, und in dieſem Jahrhundert eben nicht viel Ehre eingelegt haben. Die große Muͤhe, den Kindern von allem deutliche Begriffe zu geben, kan ich noch weniger billigen, ſo ſtrenge auch unſre Neuern in dieſer ihrer Forderung ſind. Ein deutlicher Be- griff E e 3

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/455>, abgerufen am 22.11.2024.