LXX. Die Hogarthsche Linie der Schönheit sollte noch weiter angewandt werden.
Es ist der Wellenlinie wie andern neuen Erscheinungen ge- gangen, die eine kurze Zeit alle schöne Gesellschaften in Aufmerksamkeit und Bewunderung setzen, und dann den Phi- losophen zur fernern Betrachtung heimfallen. Zu bewundern ist es jedoch, daß keiner der letztern darauf gefallen ist, ihre Wahrheit und Richtigkeit zu erweisen. Hogarth war ein gu- ter Handwerker, der mit der Mütze unter dem Arme seine Stücke verkaufte, und sich um die Theorie seines durch die Erfahrung gefundenen Satzes nicht bekümmerte; aber der Philosoph mit der Pelzmütze auf dem Haupte hätte billig tie- fer in die Sache eindringen sollen. Die Wellenlinie ist die Linie der Schönheit, aber nicht anders, als wenn sie zugleich ein Minimum ist.
Die Zirkellinie ist unter einer gleichen Bedingung die Li- nie des Reitzes. Beydes löset sich hiedurch in eine ganz simple Wahrheit auf. Die Zirkellinie ist die größte Abweichung von der geraden, oder der Linie der Noth. Wo die Natur oder der nachahmende Künstler den allergrößten Abweg wählt, und diesen durch die größte Menge der Würkungen bezahlt, da muß nothwendig alles zusammen seyn, was man mit Rechte fordern kan. Es ist folglich auch theoretisch richtig, daß die Zirkellinie, die Linie des Reitzes sey. Gleichwie aber Rhein- wein auf die Dauer besser schmeckt, als Champagner; und simple Schönheiten länger gefallen als hohe Reitzungen: so würden wir sehr übel daran seyn, wenn die Natur oder der
Künst-
Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit
LXX. Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit ſollte noch weiter angewandt werden.
Es iſt der Wellenlinie wie andern neuen Erſcheinungen ge- gangen, die eine kurze Zeit alle ſchoͤne Geſellſchaften in Aufmerkſamkeit und Bewunderung ſetzen, und dann den Phi- loſophen zur fernern Betrachtung heimfallen. Zu bewundern iſt es jedoch, daß keiner der letztern darauf gefallen iſt, ihre Wahrheit und Richtigkeit zu erweiſen. Hogarth war ein gu- ter Handwerker, der mit der Muͤtze unter dem Arme ſeine Stuͤcke verkaufte, und ſich um die Theorie ſeines durch die Erfahrung gefundenen Satzes nicht bekuͤmmerte; aber der Philoſoph mit der Pelzmuͤtze auf dem Haupte haͤtte billig tie- fer in die Sache eindringen ſollen. Die Wellenlinie iſt die Linie der Schoͤnheit, aber nicht anders, als wenn ſie zugleich ein Minimum iſt.
Die Zirkellinie iſt unter einer gleichen Bedingung die Li- nie des Reitzes. Beydes loͤſet ſich hiedurch in eine ganz ſimple Wahrheit auf. Die Zirkellinie iſt die groͤßte Abweichung von der geraden, oder der Linie der Noth. Wo die Natur oder der nachahmende Kuͤnſtler den allergroͤßten Abweg waͤhlt, und dieſen durch die groͤßte Menge der Wuͤrkungen bezahlt, da muß nothwendig alles zuſammen ſeyn, was man mit Rechte fordern kan. Es iſt folglich auch theoretiſch richtig, daß die Zirkellinie, die Linie des Reitzes ſey. Gleichwie aber Rhein- wein auf die Dauer beſſer ſchmeckt, als Champagner; und ſimple Schoͤnheiten laͤnger gefallen als hohe Reitzungen: ſo wuͤrden wir ſehr uͤbel daran ſeyn, wenn die Natur oder der
Kuͤnſt-
<TEI><text><body><pbfacs="#f0420"n="402"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit</hi></fw><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">LXX.</hi><lb/>
Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit ſollte<lb/>
noch weiter angewandt werden.</hi></head><lb/><p>Es iſt der <hirendition="#fr">Wellenlinie</hi> wie andern neuen Erſcheinungen ge-<lb/>
gangen, die eine kurze Zeit alle ſchoͤne Geſellſchaften in<lb/>
Aufmerkſamkeit und Bewunderung ſetzen, und dann den Phi-<lb/>
loſophen zur fernern Betrachtung heimfallen. Zu bewundern<lb/>
iſt es jedoch, daß keiner der letztern darauf gefallen iſt, ihre<lb/>
Wahrheit und Richtigkeit zu erweiſen. <hirendition="#fr">Hogarth</hi> war ein gu-<lb/>
ter Handwerker, der mit der Muͤtze unter dem Arme ſeine<lb/>
Stuͤcke verkaufte, und ſich um die Theorie ſeines durch die<lb/>
Erfahrung gefundenen Satzes nicht bekuͤmmerte; aber der<lb/>
Philoſoph mit der Pelzmuͤtze auf dem Haupte haͤtte billig tie-<lb/>
fer in die Sache eindringen ſollen. Die Wellenlinie iſt die<lb/>
Linie der Schoͤnheit, aber nicht anders, als wenn ſie zugleich<lb/>
ein <hirendition="#fr">Minimum</hi> iſt.</p><lb/><p>Die <hirendition="#fr">Zirkellinie</hi> iſt unter einer gleichen Bedingung die Li-<lb/>
nie des Reitzes. Beydes loͤſet ſich hiedurch in eine ganz ſimple<lb/>
Wahrheit auf. Die Zirkellinie iſt die groͤßte Abweichung von<lb/>
der geraden, oder der Linie der Noth. Wo die Natur oder<lb/>
der nachahmende Kuͤnſtler den allergroͤßten Abweg waͤhlt,<lb/>
und dieſen durch die groͤßte Menge der Wuͤrkungen bezahlt,<lb/>
da muß nothwendig alles zuſammen ſeyn, was man mit Rechte<lb/>
fordern kan. Es iſt folglich auch theoretiſch richtig, daß die<lb/>
Zirkellinie, die Linie des Reitzes ſey. Gleichwie aber Rhein-<lb/>
wein auf die Dauer beſſer ſchmeckt, als Champagner; und<lb/>ſimple Schoͤnheiten laͤnger gefallen als hohe Reitzungen: ſo<lb/>
wuͤrden wir ſehr uͤbel daran ſeyn, wenn die Natur oder der<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Kuͤnſt-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[402/0420]
Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit
LXX.
Die Hogarthſche Linie der Schoͤnheit ſollte
noch weiter angewandt werden.
Es iſt der Wellenlinie wie andern neuen Erſcheinungen ge-
gangen, die eine kurze Zeit alle ſchoͤne Geſellſchaften in
Aufmerkſamkeit und Bewunderung ſetzen, und dann den Phi-
loſophen zur fernern Betrachtung heimfallen. Zu bewundern
iſt es jedoch, daß keiner der letztern darauf gefallen iſt, ihre
Wahrheit und Richtigkeit zu erweiſen. Hogarth war ein gu-
ter Handwerker, der mit der Muͤtze unter dem Arme ſeine
Stuͤcke verkaufte, und ſich um die Theorie ſeines durch die
Erfahrung gefundenen Satzes nicht bekuͤmmerte; aber der
Philoſoph mit der Pelzmuͤtze auf dem Haupte haͤtte billig tie-
fer in die Sache eindringen ſollen. Die Wellenlinie iſt die
Linie der Schoͤnheit, aber nicht anders, als wenn ſie zugleich
ein Minimum iſt.
Die Zirkellinie iſt unter einer gleichen Bedingung die Li-
nie des Reitzes. Beydes loͤſet ſich hiedurch in eine ganz ſimple
Wahrheit auf. Die Zirkellinie iſt die groͤßte Abweichung von
der geraden, oder der Linie der Noth. Wo die Natur oder
der nachahmende Kuͤnſtler den allergroͤßten Abweg waͤhlt,
und dieſen durch die groͤßte Menge der Wuͤrkungen bezahlt,
da muß nothwendig alles zuſammen ſeyn, was man mit Rechte
fordern kan. Es iſt folglich auch theoretiſch richtig, daß die
Zirkellinie, die Linie des Reitzes ſey. Gleichwie aber Rhein-
wein auf die Dauer beſſer ſchmeckt, als Champagner; und
ſimple Schoͤnheiten laͤnger gefallen als hohe Reitzungen: ſo
wuͤrden wir ſehr uͤbel daran ſeyn, wenn die Natur oder der
Kuͤnſt-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/420>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.