LIII. Vorschlag zu einer Sammlung einheimi- scher Rechtsfälle.
Die allgemeinen Verordnungen, Gesetze und Theorien, wenn sie auch in diesem fruchtbaren Jahrhundert zu noch so vielen Bänden anschwellen sollten, werden einem Staate das nie leisten, was ihm die römischen Rechte, und besonders die Pandekten leisten. Denn es geht in der Rechts- kunst wie in der Arzneykunst, eine Sammlung richtiger Er- fahrungen mit ihrer Behandlung und Entscheidung ist alle- mal nützlicher und brauchbarer, als ein System, worinn doch immer allgemeine Raisonnemens und Hypothesen den größ- ten Platz einnehmen, und Menschen nicht so richtig als Er- fahrungen sprechen. Boerhave wird bleiben wenn Hofmann vergessen ist, und Mevius in allen Händen seyn, wenn Mon- tesquieu nur noch als eine Seltenheit gezeiget werden wird. Die Pandekten sind das Resultat von Erfahrungen, welche den größten Männern, unter einem großen Volke in Zeit von fünfhundert Jahren vorgekommen, von ihnen beurtheilet und entschieden waren.
Meine Absicht ist hier nicht, dem römischen Rechte eine Lobrede zu halten; sondern nur den Wunsch zu rechtfertigen, daß wir unsere eignen Erfahrungen auf gleiche Art sammlen und nutzen, nicht aber so sehr dem Hang zu allgemeinen Ge- setzen und Verordnungen folgen möchten. Es ist über die Kräfte aller großen und kleinen Gesetzgeber, sich alle mögliche Fälle so vorzustellen, wie sie die Erfahrung mit unendlich klei- nen Veränderungen täglich darbietet, und man kan ziemlich
wahr-
Y 4
LIII. Vorſchlag zu einer Sammlung einheimi- ſcher Rechtsfaͤlle.
Die allgemeinen Verordnungen, Geſetze und Theorien, wenn ſie auch in dieſem fruchtbaren Jahrhundert zu noch ſo vielen Baͤnden anſchwellen ſollten, werden einem Staate das nie leiſten, was ihm die roͤmiſchen Rechte, und beſonders die Pandekten leiſten. Denn es geht in der Rechts- kunſt wie in der Arzneykunſt, eine Sammlung richtiger Er- fahrungen mit ihrer Behandlung und Entſcheidung iſt alle- mal nuͤtzlicher und brauchbarer, als ein Syſtem, worinn doch immer allgemeine Raiſonnemens und Hypotheſen den groͤß- ten Platz einnehmen, und Menſchen nicht ſo richtig als Er- fahrungen ſprechen. Boerhave wird bleiben wenn Hofmann vergeſſen iſt, und Mevius in allen Haͤnden ſeyn, wenn Mon- teſquieu nur noch als eine Seltenheit gezeiget werden wird. Die Pandekten ſind das Reſultat von Erfahrungen, welche den groͤßten Maͤnnern, unter einem großen Volke in Zeit von fuͤnfhundert Jahren vorgekommen, von ihnen beurtheilet und entſchieden waren.
Meine Abſicht iſt hier nicht, dem roͤmiſchen Rechte eine Lobrede zu halten; ſondern nur den Wunſch zu rechtfertigen, daß wir unſere eignen Erfahrungen auf gleiche Art ſammlen und nutzen, nicht aber ſo ſehr dem Hang zu allgemeinen Ge- ſetzen und Verordnungen folgen moͤchten. Es iſt uͤber die Kraͤfte aller großen und kleinen Geſetzgeber, ſich alle moͤgliche Faͤlle ſo vorzuſtellen, wie ſie die Erfahrung mit unendlich klei- nen Veraͤnderungen taͤglich darbietet, und man kan ziemlich
wahr-
Y 4
<TEI><text><body><pbfacs="#f0361"n="343"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">LIII.</hi><lb/>
Vorſchlag zu einer Sammlung einheimi-<lb/>ſcher Rechtsfaͤlle.</hi></head><lb/><p>Die allgemeinen Verordnungen, Geſetze und Theorien,<lb/>
wenn ſie auch in dieſem fruchtbaren Jahrhundert zu<lb/>
noch ſo vielen Baͤnden anſchwellen ſollten, werden einem<lb/>
Staate das nie leiſten, was ihm die roͤmiſchen Rechte, und<lb/>
beſonders die Pandekten leiſten. Denn es geht in der Rechts-<lb/>
kunſt wie in der Arzneykunſt, eine Sammlung richtiger Er-<lb/>
fahrungen mit ihrer Behandlung und Entſcheidung iſt alle-<lb/>
mal nuͤtzlicher und brauchbarer, als ein Syſtem, worinn doch<lb/>
immer allgemeine Raiſonnemens und Hypotheſen den groͤß-<lb/>
ten Platz einnehmen, und Menſchen nicht ſo richtig als Er-<lb/>
fahrungen ſprechen. Boerhave wird bleiben wenn Hofmann<lb/>
vergeſſen iſt, und Mevius in allen Haͤnden ſeyn, wenn Mon-<lb/>
teſquieu nur noch als eine Seltenheit gezeiget werden wird.<lb/>
Die Pandekten ſind das Reſultat von Erfahrungen, welche<lb/>
den groͤßten Maͤnnern, unter einem großen Volke in Zeit von<lb/>
fuͤnfhundert Jahren vorgekommen, von ihnen beurtheilet und<lb/>
entſchieden waren.</p><lb/><p>Meine Abſicht iſt hier nicht, dem roͤmiſchen Rechte eine<lb/>
Lobrede zu halten; ſondern nur den Wunſch zu rechtfertigen,<lb/>
daß wir unſere eignen Erfahrungen auf gleiche Art ſammlen<lb/>
und nutzen, nicht aber ſo ſehr dem Hang zu allgemeinen Ge-<lb/>ſetzen und Verordnungen folgen moͤchten. Es iſt uͤber die<lb/>
Kraͤfte aller großen und kleinen Geſetzgeber, ſich alle moͤgliche<lb/>
Faͤlle ſo vorzuſtellen, wie ſie die Erfahrung mit unendlich klei-<lb/>
nen Veraͤnderungen taͤglich darbietet, und man kan ziemlich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Y 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">wahr-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[343/0361]
LIII.
Vorſchlag zu einer Sammlung einheimi-
ſcher Rechtsfaͤlle.
Die allgemeinen Verordnungen, Geſetze und Theorien,
wenn ſie auch in dieſem fruchtbaren Jahrhundert zu
noch ſo vielen Baͤnden anſchwellen ſollten, werden einem
Staate das nie leiſten, was ihm die roͤmiſchen Rechte, und
beſonders die Pandekten leiſten. Denn es geht in der Rechts-
kunſt wie in der Arzneykunſt, eine Sammlung richtiger Er-
fahrungen mit ihrer Behandlung und Entſcheidung iſt alle-
mal nuͤtzlicher und brauchbarer, als ein Syſtem, worinn doch
immer allgemeine Raiſonnemens und Hypotheſen den groͤß-
ten Platz einnehmen, und Menſchen nicht ſo richtig als Er-
fahrungen ſprechen. Boerhave wird bleiben wenn Hofmann
vergeſſen iſt, und Mevius in allen Haͤnden ſeyn, wenn Mon-
teſquieu nur noch als eine Seltenheit gezeiget werden wird.
Die Pandekten ſind das Reſultat von Erfahrungen, welche
den groͤßten Maͤnnern, unter einem großen Volke in Zeit von
fuͤnfhundert Jahren vorgekommen, von ihnen beurtheilet und
entſchieden waren.
Meine Abſicht iſt hier nicht, dem roͤmiſchen Rechte eine
Lobrede zu halten; ſondern nur den Wunſch zu rechtfertigen,
daß wir unſere eignen Erfahrungen auf gleiche Art ſammlen
und nutzen, nicht aber ſo ſehr dem Hang zu allgemeinen Ge-
ſetzen und Verordnungen folgen moͤchten. Es iſt uͤber die
Kraͤfte aller großen und kleinen Geſetzgeber, ſich alle moͤgliche
Faͤlle ſo vorzuſtellen, wie ſie die Erfahrung mit unendlich klei-
nen Veraͤnderungen taͤglich darbietet, und man kan ziemlich
wahr-
Y 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/361>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.