Schr. ein. Ehrenmitgl. des löbl. Schneideramts etc.
ganze Unehrlichkeit, nicht aber in der Schande, zwey Be- griffe, welche wir zu unsern Zeiten ganz verwechselt haben.
Ich gebe es zu, daß die Menschenliebe, ein Wort das in meiner Jugend gar nicht bekannt war, alle Menschen zu Brü- dern mache, und die christliche Religion diese Liebe heilige. Aber wenn Könige und Bettler vor dem Throne Gottes ei- nerley Staub sind, und in der Erde von einerley Würmen brüderlich gefressen werden: so gilt doch von demjenigen, was vor dem Throne des allmächtigen Schöpfers vorgeht, kein Schluß auf unser Gildehaus. Vor jenem liegt die Haupt- stadt, wo sich alles vermischt, hier aber sitzt man nach der Ord- nung um den Tisch, wie es die Ehre erfordert.
Kurz, ein jeder sieht daß die politische Ehrenhaftigkeit ihren unterscheidenden Charakter verliere, wenn sie allen Menschen zu theile wird. Die Bürgerliebe verwandelt sich in bloße Menschenliebe, und der Stand der Natur, worinn gar keine politische Ehre ist, tritt in die Stelle der Civilvereinigung. Ob aber dieses ein Glück sey, was wir wünschen müssen, und wodurch wir Künste und Ackerbau in Aufnahme bringen wer- den, mögen andre beurtheilen. Genung mein Junge soll in Deutschland kein Handwerk treiben, sondern allenfals in die Länder reisen, wo er sich ohne Schimpf mit andern vermi- schen kan.
Ich bin etc.
XXXXII.
Schr. ein. Ehrenmitgl. des loͤbl. Schneideramts ꝛc.
ganze Unehrlichkeit, nicht aber in der Schande, zwey Be- griffe, welche wir zu unſern Zeiten ganz verwechſelt haben.
Ich gebe es zu, daß die Menſchenliebe, ein Wort das in meiner Jugend gar nicht bekannt war, alle Menſchen zu Bruͤ- dern mache, und die chriſtliche Religion dieſe Liebe heilige. Aber wenn Koͤnige und Bettler vor dem Throne Gottes ei- nerley Staub ſind, und in der Erde von einerley Wuͤrmen bruͤderlich gefreſſen werden: ſo gilt doch von demjenigen, was vor dem Throne des allmaͤchtigen Schoͤpfers vorgeht, kein Schluß auf unſer Gildehaus. Vor jenem liegt die Haupt- ſtadt, wo ſich alles vermiſcht, hier aber ſitzt man nach der Ord- nung um den Tiſch, wie es die Ehre erfordert.
Kurz, ein jeder ſieht daß die politiſche Ehrenhaftigkeit ihren unterſcheidenden Charakter verliere, wenn ſie allen Menſchen zu theile wird. Die Buͤrgerliebe verwandelt ſich in bloße Menſchenliebe, und der Stand der Natur, worinn gar keine politiſche Ehre iſt, tritt in die Stelle der Civilvereinigung. Ob aber dieſes ein Gluͤck ſey, was wir wuͤnſchen muͤſſen, und wodurch wir Kuͤnſte und Ackerbau in Aufnahme bringen wer- den, moͤgen andre beurtheilen. Genung mein Junge ſoll in Deutſchland kein Handwerk treiben, ſondern allenfals in die Laͤnder reiſen, wo er ſich ohne Schimpf mit andern vermi- ſchen kan.
Ich bin ꝛc.
XXXXII.
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Schr. ein. Ehrenmitgl. des loͤbl. Schneideramts ꝛc.
ganze Unehrlichkeit, nicht aber in der Schande, zwey Be-
griffe, welche wir zu unſern Zeiten ganz verwechſelt haben.
Ich gebe es zu, daß die Menſchenliebe, ein Wort das in
meiner Jugend gar nicht bekannt war, alle Menſchen zu Bruͤ-
dern mache, und die chriſtliche Religion dieſe Liebe heilige.
Aber wenn Koͤnige und Bettler vor dem Throne Gottes ei-
nerley Staub ſind, und in der Erde von einerley Wuͤrmen
bruͤderlich gefreſſen werden: ſo gilt doch von demjenigen, was
vor dem Throne des allmaͤchtigen Schoͤpfers vorgeht, kein
Schluß auf unſer Gildehaus. Vor jenem liegt die Haupt-
ſtadt, wo ſich alles vermiſcht, hier aber ſitzt man nach der Ord-
nung um den Tiſch, wie es die Ehre erfordert.
Kurz, ein jeder ſieht daß die politiſche Ehrenhaftigkeit ihren
unterſcheidenden Charakter verliere, wenn ſie allen Menſchen
zu theile wird. Die Buͤrgerliebe verwandelt ſich in bloße
Menſchenliebe, und der Stand der Natur, worinn gar keine
politiſche Ehre iſt, tritt in die Stelle der Civilvereinigung.
Ob aber dieſes ein Gluͤck ſey, was wir wuͤnſchen muͤſſen, und
wodurch wir Kuͤnſte und Ackerbau in Aufnahme bringen wer-
den, moͤgen andre beurtheilen. Genung mein Junge ſoll in
Deutſchland kein Handwerk treiben, ſondern allenfals in die
Laͤnder reiſen, wo er ſich ohne Schimpf mit andern vermi-
ſchen kan.
Ich bin ꝛc.
XXXXII.
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/308>, abgerufen am 23.11.2024.
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