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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

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Der selige Vogt.

Hatte einer eine Schuldforderung an den andern: so
wandte der Gläubiger, ehe er ans Gericht gieng, sich aus blos-
sen Vertrauen allemal erst zu ihm, er ließ dann hierauf den
Schuldner rufen, fragte ihn, ob er der Schuld geständig und
warum er nicht bezahlte, und vermittelte denn insgemein
die Sache zwischen beyden so, daß beyde nach Möglichkeit
und Gelegenheit zufrieden seyn konnten.

Erhob sich ein Streit zwischen seinen Leuten über Ge-
rechtigkeiten: so gieng er mit den ältesten und vernünftigsten
Männern aus seiner Vogtey nach dem Orte wo der Streit
war; hörte beyde Theile mit Gelassenheit, und berieth sich
dann mit jenen erfahrnen Männern über die Art und Weise,
wie der Stein des Anstossens am besten gehoben werden
könnte. Fand er dann, daß der eine oder der andre Theil
sich nicht nach ihren billigen Vorschlägen bequemen wollte: so
setzte er den Streitpunkt deutlich auseinander, und die gut-
achtliche Meinung der zugezogenen Männer darunter, und
gab solche dem unschuldigen Theile zu seiner Vertheidigung
ans Gerichte mit, da denn nicht selten der Richter seine Ent-
scheidung darnach einrichtete.

Die Auflagen welche seine Untergebene zu zahlen hatten,
forderte er nie zur unbequemen Zeit. Er borgte ihnen aber
auch nicht drey Tage über die Stunde, worinn sie ihrer Ge-
legenheit nach bezahlen konnten und mußten. Hier hielte er
die große Strenge nothwendig, weil er wohl wußte, daß
aller Aufschub in solchen Fällen nur denen zum Schaden ge-
reicht, die ihn nehmen. Er kannte eines jeden Vermögen und
Gelegenheit, und richtete allemal seine Maaßregeln so ein,
daß der Faule angestrengt und der Fleißige nicht unterdrücket
wurde.

War ein Erbe in Schulden so tief versunken, daß es
sich ohne Stillestand nicht retten konnte: so machte er mit Zu-

zie-
Der ſelige Vogt.

Hatte einer eine Schuldforderung an den andern: ſo
wandte der Glaͤubiger, ehe er ans Gericht gieng, ſich aus bloſ-
ſen Vertrauen allemal erſt zu ihm, er ließ dann hierauf den
Schuldner rufen, fragte ihn, ob er der Schuld geſtaͤndig und
warum er nicht bezahlte, und vermittelte denn insgemein
die Sache zwiſchen beyden ſo, daß beyde nach Moͤglichkeit
und Gelegenheit zufrieden ſeyn konnten.

Erhob ſich ein Streit zwiſchen ſeinen Leuten uͤber Ge-
rechtigkeiten: ſo gieng er mit den aͤlteſten und vernuͤnftigſten
Maͤnnern aus ſeiner Vogtey nach dem Orte wo der Streit
war; hoͤrte beyde Theile mit Gelaſſenheit, und berieth ſich
dann mit jenen erfahrnen Maͤnnern uͤber die Art und Weiſe,
wie der Stein des Anſtoſſens am beſten gehoben werden
koͤnnte. Fand er dann, daß der eine oder der andre Theil
ſich nicht nach ihren billigen Vorſchlaͤgen bequemen wollte: ſo
ſetzte er den Streitpunkt deutlich auseinander, und die gut-
achtliche Meinung der zugezogenen Maͤnner darunter, und
gab ſolche dem unſchuldigen Theile zu ſeiner Vertheidigung
ans Gerichte mit, da denn nicht ſelten der Richter ſeine Ent-
ſcheidung darnach einrichtete.

Die Auflagen welche ſeine Untergebene zu zahlen hatten,
forderte er nie zur unbequemen Zeit. Er borgte ihnen aber
auch nicht drey Tage uͤber die Stunde, worinn ſie ihrer Ge-
legenheit nach bezahlen konnten und mußten. Hier hielte er
die große Strenge nothwendig, weil er wohl wußte, daß
aller Aufſchub in ſolchen Faͤllen nur denen zum Schaden ge-
reicht, die ihn nehmen. Er kannte eines jeden Vermoͤgen und
Gelegenheit, und richtete allemal ſeine Maaßregeln ſo ein,
daß der Faule angeſtrengt und der Fleißige nicht unterdruͤcket
wurde.

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ſich ohne Stilleſtand nicht retten konnte: ſo machte er mit Zu-

zie-
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[155/0173] Der ſelige Vogt. Hatte einer eine Schuldforderung an den andern: ſo wandte der Glaͤubiger, ehe er ans Gericht gieng, ſich aus bloſ- ſen Vertrauen allemal erſt zu ihm, er ließ dann hierauf den Schuldner rufen, fragte ihn, ob er der Schuld geſtaͤndig und warum er nicht bezahlte, und vermittelte denn insgemein die Sache zwiſchen beyden ſo, daß beyde nach Moͤglichkeit und Gelegenheit zufrieden ſeyn konnten. Erhob ſich ein Streit zwiſchen ſeinen Leuten uͤber Ge- rechtigkeiten: ſo gieng er mit den aͤlteſten und vernuͤnftigſten Maͤnnern aus ſeiner Vogtey nach dem Orte wo der Streit war; hoͤrte beyde Theile mit Gelaſſenheit, und berieth ſich dann mit jenen erfahrnen Maͤnnern uͤber die Art und Weiſe, wie der Stein des Anſtoſſens am beſten gehoben werden koͤnnte. Fand er dann, daß der eine oder der andre Theil ſich nicht nach ihren billigen Vorſchlaͤgen bequemen wollte: ſo ſetzte er den Streitpunkt deutlich auseinander, und die gut- achtliche Meinung der zugezogenen Maͤnner darunter, und gab ſolche dem unſchuldigen Theile zu ſeiner Vertheidigung ans Gerichte mit, da denn nicht ſelten der Richter ſeine Ent- ſcheidung darnach einrichtete. Die Auflagen welche ſeine Untergebene zu zahlen hatten, forderte er nie zur unbequemen Zeit. Er borgte ihnen aber auch nicht drey Tage uͤber die Stunde, worinn ſie ihrer Ge- legenheit nach bezahlen konnten und mußten. Hier hielte er die große Strenge nothwendig, weil er wohl wußte, daß aller Aufſchub in ſolchen Faͤllen nur denen zum Schaden ge- reicht, die ihn nehmen. Er kannte eines jeden Vermoͤgen und Gelegenheit, und richtete allemal ſeine Maaßregeln ſo ein, daß der Faule angeſtrengt und der Fleißige nicht unterdruͤcket wurde. War ein Erbe in Schulden ſo tief verſunken, daß es ſich ohne Stilleſtand nicht retten konnte: ſo machte er mit Zu- zie-

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/173>, abgerufen am 22.11.2024.