solchen alten Knasterbarts etwas gewinnen oder verlieren? Die gesunde Vernunft ist uns gegeben, um selbst zu prüfen, nicht aber um andern nachzuschreiben; und der ganze Schwarm von Rechtsgelehrten vermag nichts gegen die Wahrheit ...
Allein wissen Sie auch wohl, in welchen Staaten man zuerst einen Haß auf die alte Methode geworfen? Es waren diejenigen, welche sich dem Despotismus näherten. Haben Sie auch bemerkt, welches diejenigen sind, die sich lieber nach der gesunden Vernunft, als nach der Lehre eines ehrba- ren alten Rechtsgelehrten richten? Es sind die fürstlichen Cammerräthe. Erinnern Sie sich eines Krieges, worinn Grotius und Pufendorf wenig allegirt, und lauter Vernunft- schlüsse gebraucht sind? Es war der letzte, worinn ein jeder that, was er konnte. Haben Sie endlich auch wohl bemerkt, daß in England, Holland, in den Stiftern und den Reichs- städten die Gewohnheit zu allegiren und die Ehre der Advo- katen sich am längsten erhalten hat?
Mich dünkt, diese allgemeinen Betrachtungen solten uns schon bewegen, der Sache weiter nachzudenken; und wenn wir den großen Haß dazu nehmen, welcher in allen de- spotischen Staaten den von der Familie des Bartolus und Baldus bewiesen wird, indem man sie von allen Beförderun- gen so viel möglich entfernt, und mit Verachtung drückt: so solten wir billig schliessen, die gesunde Vernunft, nach welcher jetzt alles behandelt und entschieden werden soll, müsse eine gefällige Schmeichlerin der Mächtigen, und jene Pedanterie eine ziemliche Stütze der Freyheit seyn. Ja, wir solten schlies- sen, die Verachtung solcher Rechtsgelehrten sey ein Versuch, um die Vertheydigung der Freyheit mit der Zeit in lauter schlüpfrige oder verachtete Hände zu bringen.
Die Frage: Was ist Wahrheit? ist sehr alt; und nach- dem man einige tausend Jahr sich darüber gezankt hat, ist man
end-
J 4
uͤber das ſogenannte Allegiren.
ſolchen alten Knaſterbarts etwas gewinnen oder verlieren? Die geſunde Vernunft iſt uns gegeben, um ſelbſt zu pruͤfen, nicht aber um andern nachzuſchreiben; und der ganze Schwarm von Rechtsgelehrten vermag nichts gegen die Wahrheit …
Allein wiſſen Sie auch wohl, in welchen Staaten man zuerſt einen Haß auf die alte Methode geworfen? Es waren diejenigen, welche ſich dem Deſpotiſmus naͤherten. Haben Sie auch bemerkt, welches diejenigen ſind, die ſich lieber nach der geſunden Vernunft, als nach der Lehre eines ehrba- ren alten Rechtsgelehrten richten? Es ſind die fuͤrſtlichen Cammerraͤthe. Erinnern Sie ſich eines Krieges, worinn Grotius und Pufendorf wenig allegirt, und lauter Vernunft- ſchluͤſſe gebraucht ſind? Es war der letzte, worinn ein jeder that, was er konnte. Haben Sie endlich auch wohl bemerkt, daß in England, Holland, in den Stiftern und den Reichs- ſtaͤdten die Gewohnheit zu allegiren und die Ehre der Advo- katen ſich am laͤngſten erhalten hat?
Mich duͤnkt, dieſe allgemeinen Betrachtungen ſolten uns ſchon bewegen, der Sache weiter nachzudenken; und wenn wir den großen Haß dazu nehmen, welcher in allen de- ſpotiſchen Staaten den von der Familie des Bartolus und Baldus bewieſen wird, indem man ſie von allen Befoͤrderun- gen ſo viel moͤglich entfernt, und mit Verachtung druͤckt: ſo ſolten wir billig ſchlieſſen, die geſunde Vernunft, nach welcher jetzt alles behandelt und entſchieden werden ſoll, muͤſſe eine gefaͤllige Schmeichlerin der Maͤchtigen, und jene Pedanterie eine ziemliche Stuͤtze der Freyheit ſeyn. Ja, wir ſolten ſchlieſ- ſen, die Verachtung ſolcher Rechtsgelehrten ſey ein Verſuch, um die Vertheydigung der Freyheit mit der Zeit in lauter ſchluͤpfrige oder verachtete Haͤnde zu bringen.
Die Frage: Was iſt Wahrheit? iſt ſehr alt; und nach- dem man einige tauſend Jahr ſich daruͤber gezankt hat, iſt man
end-
J 4
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0153"n="135"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">uͤber das ſogenannte Allegiren.</hi></fw><lb/>ſolchen alten Knaſterbarts etwas gewinnen oder verlieren?<lb/>
Die geſunde Vernunft iſt uns gegeben, um ſelbſt zu pruͤfen,<lb/>
nicht aber um andern nachzuſchreiben; und der ganze Schwarm<lb/>
von Rechtsgelehrten vermag nichts gegen die Wahrheit …</p><lb/><p>Allein wiſſen Sie auch wohl, in welchen Staaten man<lb/>
zuerſt einen Haß auf die alte Methode geworfen? Es waren<lb/>
diejenigen, welche ſich dem Deſpotiſmus naͤherten. Haben<lb/>
Sie auch bemerkt, welches diejenigen ſind, die ſich lieber<lb/>
nach der geſunden Vernunft, als nach der Lehre eines ehrba-<lb/>
ren alten Rechtsgelehrten richten? Es ſind die fuͤrſtlichen<lb/>
Cammerraͤthe. Erinnern Sie ſich eines Krieges, worinn<lb/>
Grotius und Pufendorf wenig allegirt, und lauter Vernunft-<lb/>ſchluͤſſe gebraucht ſind? Es war der letzte, worinn ein jeder<lb/>
that, was er konnte. Haben Sie endlich auch wohl bemerkt,<lb/>
daß in England, Holland, in den Stiftern und den Reichs-<lb/>ſtaͤdten die Gewohnheit zu allegiren und die Ehre der Advo-<lb/>
katen ſich am laͤngſten erhalten hat?</p><lb/><p>Mich duͤnkt, dieſe allgemeinen Betrachtungen ſolten<lb/>
uns ſchon bewegen, der Sache weiter nachzudenken; und<lb/>
wenn wir den großen Haß dazu nehmen, welcher in allen de-<lb/>ſpotiſchen Staaten den von der Familie des Bartolus und<lb/>
Baldus bewieſen wird, indem man ſie von allen Befoͤrderun-<lb/>
gen ſo viel moͤglich entfernt, und mit Verachtung druͤckt: ſo<lb/>ſolten wir billig ſchlieſſen, die geſunde Vernunft, nach welcher<lb/>
jetzt alles behandelt und entſchieden werden ſoll, muͤſſe eine<lb/>
gefaͤllige Schmeichlerin der Maͤchtigen, und jene Pedanterie<lb/>
eine ziemliche Stuͤtze der Freyheit ſeyn. Ja, wir ſolten ſchlieſ-<lb/>ſen, die Verachtung ſolcher Rechtsgelehrten ſey ein Verſuch,<lb/>
um die Vertheydigung der Freyheit mit der Zeit in lauter<lb/>ſchluͤpfrige oder verachtete Haͤnde zu bringen.</p><lb/><p>Die Frage: Was iſt Wahrheit? iſt ſehr alt; und nach-<lb/>
dem man einige tauſend Jahr ſich daruͤber gezankt hat, iſt man<lb/><fwplace="bottom"type="sig">J 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">end-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[135/0153]
uͤber das ſogenannte Allegiren.
ſolchen alten Knaſterbarts etwas gewinnen oder verlieren?
Die geſunde Vernunft iſt uns gegeben, um ſelbſt zu pruͤfen,
nicht aber um andern nachzuſchreiben; und der ganze Schwarm
von Rechtsgelehrten vermag nichts gegen die Wahrheit …
Allein wiſſen Sie auch wohl, in welchen Staaten man
zuerſt einen Haß auf die alte Methode geworfen? Es waren
diejenigen, welche ſich dem Deſpotiſmus naͤherten. Haben
Sie auch bemerkt, welches diejenigen ſind, die ſich lieber
nach der geſunden Vernunft, als nach der Lehre eines ehrba-
ren alten Rechtsgelehrten richten? Es ſind die fuͤrſtlichen
Cammerraͤthe. Erinnern Sie ſich eines Krieges, worinn
Grotius und Pufendorf wenig allegirt, und lauter Vernunft-
ſchluͤſſe gebraucht ſind? Es war der letzte, worinn ein jeder
that, was er konnte. Haben Sie endlich auch wohl bemerkt,
daß in England, Holland, in den Stiftern und den Reichs-
ſtaͤdten die Gewohnheit zu allegiren und die Ehre der Advo-
katen ſich am laͤngſten erhalten hat?
Mich duͤnkt, dieſe allgemeinen Betrachtungen ſolten
uns ſchon bewegen, der Sache weiter nachzudenken; und
wenn wir den großen Haß dazu nehmen, welcher in allen de-
ſpotiſchen Staaten den von der Familie des Bartolus und
Baldus bewieſen wird, indem man ſie von allen Befoͤrderun-
gen ſo viel moͤglich entfernt, und mit Verachtung druͤckt: ſo
ſolten wir billig ſchlieſſen, die geſunde Vernunft, nach welcher
jetzt alles behandelt und entſchieden werden ſoll, muͤſſe eine
gefaͤllige Schmeichlerin der Maͤchtigen, und jene Pedanterie
eine ziemliche Stuͤtze der Freyheit ſeyn. Ja, wir ſolten ſchlieſ-
ſen, die Verachtung ſolcher Rechtsgelehrten ſey ein Verſuch,
um die Vertheydigung der Freyheit mit der Zeit in lauter
ſchluͤpfrige oder verachtete Haͤnde zu bringen.
Die Frage: Was iſt Wahrheit? iſt ſehr alt; und nach-
dem man einige tauſend Jahr ſich daruͤber gezankt hat, iſt man
end-
J 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/153>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.