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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

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Von dem moralischen
Eingeweide schneiden: so verfliegt mit dem veränderten Ge-
sichtspunkt die vorige Schönheit. Das, was ihnen durch das
Vergrößerungsglas ein rauhes Ding; eine fürchterliche Borke;
ein heßlicher Quark scheinet; wird dem ungewafneten Auge
eine süsse und liebliche Gestalt. Der Berg in der Nähe ist
voller Höhlen; und der Herkules auf dem Weissenstein ein
ungeheures Geschöpfe; aber unten -- in der Ferne -- wie
prächtig ist beydes?

Wann dieses in der physicalischen Welt wahr ist; warum
wollen wir denn diese Analogie in der moralischen verkennen?
Setzen sie ihren Helden einmal auf die Nadelspitze, und las-
sen ihn diesesmal unter ihrem moralischen Mikroscopio einige
Männchen machen! Nicht wahr, Sie finden ihn recht schwarz,
grausam, geizig und seinem Bruder ungetreu.... Aber treten
Sie zurück; wie groß, wie wundernswürdig wieder?

Wer heißt Ihnen nun die Schönheit dieses großen Ein-
drucks um deswillen anfechten, weil die dazu würkende Theile
bey einer schärfern Untersuchung so heßlich sind? Gehöret
nicht ein guter Theil Grausamkeit eben so gut zur wahren
Tapferkeit, als Kienruß zur grauen Farbe? Muß nicht ein
Strich von Geitz durch den Charakter des Haushalters gehen,
um ihn sparsam zu machen? Ist nicht Falschheit zum Miß-
trauen, und Mißtrauen zur Vorsicht nöthig?

Die Leute, welche von der Falschheit der menschlichen
Tugenden schreiben, wollen immer Fümet ohne Fäulung;
und Blitze haben, die nicht zünden. Sie werden zwar sa-
gen, die Grausamkeit sey alsdenn nur Strenge; der Geitz
nur Härte und die Fäulung eine natürliche Auflösung: Allein
daß Sie die Pest unter den Wölfen zu einem Erhaltungsmit-
tel ihre Schaafe machen, verändert die Sache nicht. Wir
wollen also aufrichtig zu Werke gehen, und die Tugend blos

für

Von dem moraliſchen
Eingeweide ſchneiden: ſo verfliegt mit dem veraͤnderten Ge-
ſichtspunkt die vorige Schoͤnheit. Das, was ihnen durch das
Vergroͤßerungsglas ein rauhes Ding; eine fuͤrchterliche Borke;
ein heßlicher Quark ſcheinet; wird dem ungewafneten Auge
eine ſuͤſſe und liebliche Geſtalt. Der Berg in der Naͤhe iſt
voller Hoͤhlen; und der Herkules auf dem Weiſſenſtein ein
ungeheures Geſchoͤpfe; aber unten — in der Ferne — wie
praͤchtig iſt beydes?

Wann dieſes in der phyſicaliſchen Welt wahr iſt; warum
wollen wir denn dieſe Analogie in der moraliſchen verkennen?
Setzen ſie ihren Helden einmal auf die Nadelſpitze, und laſ-
ſen ihn dieſesmal unter ihrem moraliſchen Mikroſcopio einige
Maͤnnchen machen! Nicht wahr, Sie finden ihn recht ſchwarz,
grauſam, geizig und ſeinem Bruder ungetreu.... Aber treten
Sie zuruͤck; wie groß, wie wundernswuͤrdig wieder?

Wer heißt Ihnen nun die Schoͤnheit dieſes großen Ein-
drucks um deswillen anfechten, weil die dazu wuͤrkende Theile
bey einer ſchaͤrfern Unterſuchung ſo heßlich ſind? Gehoͤret
nicht ein guter Theil Grauſamkeit eben ſo gut zur wahren
Tapferkeit, als Kienruß zur grauen Farbe? Muß nicht ein
Strich von Geitz durch den Charakter des Haushalters gehen,
um ihn ſparſam zu machen? Iſt nicht Falſchheit zum Miß-
trauen, und Mißtrauen zur Vorſicht noͤthig?

Die Leute, welche von der Falſchheit der menſchlichen
Tugenden ſchreiben, wollen immer Fuͤmet ohne Faͤulung;
und Blitze haben, die nicht zuͤnden. Sie werden zwar ſa-
gen, die Grauſamkeit ſey alsdenn nur Strenge; der Geitz
nur Haͤrte und die Faͤulung eine natuͤrliche Aufloͤſung: Allein
daß Sie die Peſt unter den Woͤlfen zu einem Erhaltungsmit-
tel ihre Schaafe machen, veraͤndert die Sache nicht. Wir
wollen alſo aufrichtig zu Werke gehen, und die Tugend blos

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[110/0128] Von dem moraliſchen Eingeweide ſchneiden: ſo verfliegt mit dem veraͤnderten Ge- ſichtspunkt die vorige Schoͤnheit. Das, was ihnen durch das Vergroͤßerungsglas ein rauhes Ding; eine fuͤrchterliche Borke; ein heßlicher Quark ſcheinet; wird dem ungewafneten Auge eine ſuͤſſe und liebliche Geſtalt. Der Berg in der Naͤhe iſt voller Hoͤhlen; und der Herkules auf dem Weiſſenſtein ein ungeheures Geſchoͤpfe; aber unten — in der Ferne — wie praͤchtig iſt beydes? Wann dieſes in der phyſicaliſchen Welt wahr iſt; warum wollen wir denn dieſe Analogie in der moraliſchen verkennen? Setzen ſie ihren Helden einmal auf die Nadelſpitze, und laſ- ſen ihn dieſesmal unter ihrem moraliſchen Mikroſcopio einige Maͤnnchen machen! Nicht wahr, Sie finden ihn recht ſchwarz, grauſam, geizig und ſeinem Bruder ungetreu.... Aber treten Sie zuruͤck; wie groß, wie wundernswuͤrdig wieder? Wer heißt Ihnen nun die Schoͤnheit dieſes großen Ein- drucks um deswillen anfechten, weil die dazu wuͤrkende Theile bey einer ſchaͤrfern Unterſuchung ſo heßlich ſind? Gehoͤret nicht ein guter Theil Grauſamkeit eben ſo gut zur wahren Tapferkeit, als Kienruß zur grauen Farbe? Muß nicht ein Strich von Geitz durch den Charakter des Haushalters gehen, um ihn ſparſam zu machen? Iſt nicht Falſchheit zum Miß- trauen, und Mißtrauen zur Vorſicht noͤthig? Die Leute, welche von der Falſchheit der menſchlichen Tugenden ſchreiben, wollen immer Fuͤmet ohne Faͤulung; und Blitze haben, die nicht zuͤnden. Sie werden zwar ſa- gen, die Grauſamkeit ſey alsdenn nur Strenge; der Geitz nur Haͤrte und die Faͤulung eine natuͤrliche Aufloͤſung: Allein daß Sie die Peſt unter den Woͤlfen zu einem Erhaltungsmit- tel ihre Schaafe machen, veraͤndert die Sache nicht. Wir wollen alſo aufrichtig zu Werke gehen, und die Tugend blos fuͤr

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/128>, abgerufen am 24.11.2024.