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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

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Die Frage: ist es gut, daß die Unterthan.
von ihren weiten Reisen hätten, als wenn sie jedes Orts ihre
Sachen zu Hause verrichteten. Denn die Nerven, der Rück-
grad und alle Gliedmassen biegen sich zu einer von Jugend
auf gelernten, täglich gesehenen und geübten Arbeit auf das
vollkommenste, und auch der kleinste Vortheil wird zuletzt
entdeckt und genutzt. Wer würde es nun aber wagen, jede
Nation hierinn auf andere Gedanken 'zu bringen? Die alten
von dreyßig vierzig und funfzig Jahren zu bekehren ist fast
unmöglich, und allezeit gefährlich. Um die Kinder aber in
ihrer Eltern Hause, unter ihrer Aufsicht und Lehre, völlig
umzubilden, dazu gehören solche Anstalten, welche nicht so
leicht auszuführen seyn möchten. Und so ist es eine sehr be-
denkliche Sache, einem Volke seinen gewohnten Weg zu ver-
sperren, um ihn mit Unsicherheit auf einen ungewohnten zu
führen.

Wahr ist es, daß die Leute, welche nach Holland und
England zur Arbeit gehen, früher alt und unvermögend werden
als andere, die bey ordentlicher Land- und Hausarbeit ihre
Kräfte nicht übernehmen: denn wenn sie etwas verdienen
wollen, müssen sie alle Augenblicke nutzen, und keinen Odem-
zug ohne Arbeit thun. Der Gewinnst stärkt ihre Begierde;
und die Begierde giebt eine größere aber kurze Stärke. Allein
es ist auch nicht weniger wahr, daß die Fortpflanzung des
menschlichen Geschlechts unter den Heuerleuten um ein Drittel
schneller gehe, als unter den Landbesitzern. Hier muß insge-
mein der Anerbe warten, bis der Vater stirbt oder abzieht;
ehe ist für eine junge Frau kein Platz im Hause offen. Die
Mahljahre von Stiefeltern gehen insgemein so weit bis der
Anerbe sein dreyßigstes Jahr erreicht. Dreyßig Jahre ma-
chen also das gewöhnlichste Alter aus, worinn Landbesitzer
beyrathen; und wenn Tacitus es der deutschen Enthaltsam-
keit zuschreibt, daß sie vor den 25. Jahre nicht heyratheten:

so

Die Frage: iſt es gut, daß die Unterthan.
von ihren weiten Reiſen haͤtten, als wenn ſie jedes Orts ihre
Sachen zu Hauſe verrichteten. Denn die Nerven, der Ruͤck-
grad und alle Gliedmaſſen biegen ſich zu einer von Jugend
auf gelernten, taͤglich geſehenen und geuͤbten Arbeit auf das
vollkommenſte, und auch der kleinſte Vortheil wird zuletzt
entdeckt und genutzt. Wer wuͤrde es nun aber wagen, jede
Nation hierinn auf andere Gedanken ’zu bringen? Die alten
von dreyßig vierzig und funfzig Jahren zu bekehren iſt faſt
unmoͤglich, und allezeit gefaͤhrlich. Um die Kinder aber in
ihrer Eltern Hauſe, unter ihrer Aufſicht und Lehre, voͤllig
umzubilden, dazu gehoͤren ſolche Anſtalten, welche nicht ſo
leicht auszufuͤhren ſeyn moͤchten. Und ſo iſt es eine ſehr be-
denkliche Sache, einem Volke ſeinen gewohnten Weg zu ver-
ſperren, um ihn mit Unſicherheit auf einen ungewohnten zu
fuͤhren.

Wahr iſt es, daß die Leute, welche nach Holland und
England zur Arbeit gehen, fruͤher alt und unvermoͤgend werden
als andere, die bey ordentlicher Land- und Hausarbeit ihre
Kraͤfte nicht uͤbernehmen: denn wenn ſie etwas verdienen
wollen, muͤſſen ſie alle Augenblicke nutzen, und keinen Odem-
zug ohne Arbeit thun. Der Gewinnſt ſtaͤrkt ihre Begierde;
und die Begierde giebt eine groͤßere aber kurze Staͤrke. Allein
es iſt auch nicht weniger wahr, daß die Fortpflanzung des
menſchlichen Geſchlechts unter den Heuerleuten um ein Drittel
ſchneller gehe, als unter den Landbeſitzern. Hier muß insge-
mein der Anerbe warten, bis der Vater ſtirbt oder abzieht;
ehe iſt fuͤr eine junge Frau kein Platz im Hauſe offen. Die
Mahljahre von Stiefeltern gehen insgemein ſo weit bis der
Anerbe ſein dreyßigſtes Jahr erreicht. Dreyßig Jahre ma-
chen alſo das gewoͤhnlichſte Alter aus, worinn Landbeſitzer
beyrathen; und wenn Tacitus es der deutſchen Enthaltſam-
keit zuſchreibt, daß ſie vor den 25. Jahre nicht heyratheten:

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[96/0114] Die Frage: iſt es gut, daß die Unterthan. von ihren weiten Reiſen haͤtten, als wenn ſie jedes Orts ihre Sachen zu Hauſe verrichteten. Denn die Nerven, der Ruͤck- grad und alle Gliedmaſſen biegen ſich zu einer von Jugend auf gelernten, taͤglich geſehenen und geuͤbten Arbeit auf das vollkommenſte, und auch der kleinſte Vortheil wird zuletzt entdeckt und genutzt. Wer wuͤrde es nun aber wagen, jede Nation hierinn auf andere Gedanken ’zu bringen? Die alten von dreyßig vierzig und funfzig Jahren zu bekehren iſt faſt unmoͤglich, und allezeit gefaͤhrlich. Um die Kinder aber in ihrer Eltern Hauſe, unter ihrer Aufſicht und Lehre, voͤllig umzubilden, dazu gehoͤren ſolche Anſtalten, welche nicht ſo leicht auszufuͤhren ſeyn moͤchten. Und ſo iſt es eine ſehr be- denkliche Sache, einem Volke ſeinen gewohnten Weg zu ver- ſperren, um ihn mit Unſicherheit auf einen ungewohnten zu fuͤhren. Wahr iſt es, daß die Leute, welche nach Holland und England zur Arbeit gehen, fruͤher alt und unvermoͤgend werden als andere, die bey ordentlicher Land- und Hausarbeit ihre Kraͤfte nicht uͤbernehmen: denn wenn ſie etwas verdienen wollen, muͤſſen ſie alle Augenblicke nutzen, und keinen Odem- zug ohne Arbeit thun. Der Gewinnſt ſtaͤrkt ihre Begierde; und die Begierde giebt eine groͤßere aber kurze Staͤrke. Allein es iſt auch nicht weniger wahr, daß die Fortpflanzung des menſchlichen Geſchlechts unter den Heuerleuten um ein Drittel ſchneller gehe, als unter den Landbeſitzern. Hier muß insge- mein der Anerbe warten, bis der Vater ſtirbt oder abzieht; ehe iſt fuͤr eine junge Frau kein Platz im Hauſe offen. Die Mahljahre von Stiefeltern gehen insgemein ſo weit bis der Anerbe ſein dreyßigſtes Jahr erreicht. Dreyßig Jahre ma- chen alſo das gewoͤhnlichſte Alter aus, worinn Landbeſitzer beyrathen; und wenn Tacitus es der deutſchen Enthaltſam- keit zuſchreibt, daß ſie vor den 25. Jahre nicht heyratheten: ſo

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/114>, abgerufen am 22.11.2024.