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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende
eingetretenen Tod seiner wahnsinnigen Tochter. Man
hatte sie, wie der Präsident sogleich bei seiner Heim-
kunft Meldung that, etliche Meilen von seinem Gute
entseelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo sie ohne
Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. --
Ihr Vater war von ihrer jammervollen Existenz seit
Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand
einige Versuche gemacht, sie in einer geordneten
Familie unterzubringen; aber sie fing, ihrer gewohn-
ten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augen-
scheinlich zu welken an, sie ergriff zu wiederholten
Malen die Flucht mit großer List und da überdieß
ihr melancholisches Wesen, mit der Muttermilch ein-
gesogen, durchaus unheilbar schien, so gab man sich
zulezt nicht Mühe mehr, sie einzufangen.

Noch ist nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin
Armond, seit lange krank und aller Welt abgestorben,
jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die lezte Zeit,
und zwar in Verbindung mit dem Hofrath, insgeheim
beschäftigt, jene kläglichen Schicksale nur wenige Monate
überlebte.


vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende
eingetretenen Tod ſeiner wahnſinnigen Tochter. Man
hatte ſie, wie der Präſident ſogleich bei ſeiner Heim-
kunft Meldung that, etliche Meilen von ſeinem Gute
entſeelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo ſie ohne
Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. —
Ihr Vater war von ihrer jammervollen Exiſtenz ſeit
Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand
einige Verſuche gemacht, ſie in einer geordneten
Familie unterzubringen; aber ſie fing, ihrer gewohn-
ten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augen-
ſcheinlich zu welken an, ſie ergriff zu wiederholten
Malen die Flucht mit großer Liſt und da überdieß
ihr melancholiſches Weſen, mit der Muttermilch ein-
geſogen, durchaus unheilbar ſchien, ſo gab man ſich
zulezt nicht Mühe mehr, ſie einzufangen.

Noch iſt nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin
Armond, ſeit lange krank und aller Welt abgeſtorben,
jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die lezte Zeit,
und zwar in Verbindung mit dem Hofrath, insgeheim
beſchäftigt, jene kläglichen Schickſale nur wenige Monate
überlebte.


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[640/0326] vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende eingetretenen Tod ſeiner wahnſinnigen Tochter. Man hatte ſie, wie der Präſident ſogleich bei ſeiner Heim- kunft Meldung that, etliche Meilen von ſeinem Gute entſeelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo ſie ohne Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. — Ihr Vater war von ihrer jammervollen Exiſtenz ſeit Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand einige Verſuche gemacht, ſie in einer geordneten Familie unterzubringen; aber ſie fing, ihrer gewohn- ten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augen- ſcheinlich zu welken an, ſie ergriff zu wiederholten Malen die Flucht mit großer Liſt und da überdieß ihr melancholiſches Weſen, mit der Muttermilch ein- geſogen, durchaus unheilbar ſchien, ſo gab man ſich zulezt nicht Mühe mehr, ſie einzufangen. Noch iſt nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin Armond, ſeit lange krank und aller Welt abgeſtorben, jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die lezte Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Hofrath, insgeheim beſchäftigt, jene kläglichen Schickſale nur wenige Monate überlebte.

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 640. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/326>, abgerufen am 22.11.2024.