sie dann die Materie nicht nur sehr lange, mit ziemli- cher Stetigkeit, sondern er mußte sich häufig auch über den Reichthum ihrer Gedanken, über die tiefe Wahr- heit ihrer innern religiösen Erfahrung verwundern, die freilich mehr nur durch Erinnerung aus dem gesunden Zustand hergenommen seyn mochte und mehr historisch von ihr vorgebracht wurde, als daß sie jezt noch rein und innig darin gelebt hätte; nichts desto weniger war die Fähigkeit unschätzbar, sich diese Gefühle lebendig zu vergegenwärtigen, so wie der Vortheil, solche befe- stigen und Neues daran knüpfen zu können, dem treuen Henni höchst willkommen war. Gegen einige grelle, aus Mißverständniß der Bibelsprache entstandene Vor- stellungen, welche zwar von Hause aus Glaubensarti- kel bei ihr gewesen seyn mochten, in reiferen Jahren aber glücklich verdrungen, jezt wieder, auf eine närrische Art erweitert, zum Vorschein kamen, hatte Henni vorzüglich zu kämpfen. Besonders kam er mit ihrer falschen Anwendung des Dämonenglaubens in's Ge- dränge, weil er diese Lehre, als eine an sich selber wahre und in der Schrift gegründete, unmöglich verwerfen konnte.
Allein im höchsten Grad betrübend war es ihm, wenn sie, mitten aus der schönsten Ordnung her- aus, entweder in eine auffallende Begriffsverwirrung fiel, oder auch wohl plötzlich auf ganz andre Dinge absprang.
So saßen sie neulich an ihrem Lieblingsplatz unter
ſie dann die Materie nicht nur ſehr lange, mit ziemli- cher Stetigkeit, ſondern er mußte ſich häufig auch über den Reichthum ihrer Gedanken, über die tiefe Wahr- heit ihrer innern religiöſen Erfahrung verwundern, die freilich mehr nur durch Erinnerung aus dem geſunden Zuſtand hergenommen ſeyn mochte und mehr hiſtoriſch von ihr vorgebracht wurde, als daß ſie jezt noch rein und innig darin gelebt hätte; nichts deſto weniger war die Fähigkeit unſchätzbar, ſich dieſe Gefühle lebendig zu vergegenwärtigen, ſo wie der Vortheil, ſolche befe- ſtigen und Neues daran knüpfen zu können, dem treuen Henni höchſt willkommen war. Gegen einige grelle, aus Mißverſtändniß der Bibelſprache entſtandene Vor- ſtellungen, welche zwar von Hauſe aus Glaubensarti- kel bei ihr geweſen ſeyn mochten, in reiferen Jahren aber glücklich verdrungen, jezt wieder, auf eine närriſche Art erweitert, zum Vorſchein kamen, hatte Henni vorzüglich zu kämpfen. Beſonders kam er mit ihrer falſchen Anwendung des Dämonenglaubens in’s Ge- dränge, weil er dieſe Lehre, als eine an ſich ſelber wahre und in der Schrift gegründete, unmöglich verwerfen konnte.
Allein im höchſten Grad betrübend war es ihm, wenn ſie, mitten aus der ſchönſten Ordnung her- aus, entweder in eine auffallende Begriffsverwirrung fiel, oder auch wohl plötzlich auf ganz andre Dinge abſprang.
So ſaßen ſie neulich an ihrem Lieblingsplatz unter
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ſie dann die Materie nicht nur ſehr lange, mit ziemli-
cher Stetigkeit, ſondern er mußte ſich häufig auch über
den Reichthum ihrer Gedanken, über die tiefe Wahr-
heit ihrer innern religiöſen Erfahrung verwundern, die
freilich mehr nur durch Erinnerung aus dem geſunden
Zuſtand hergenommen ſeyn mochte und mehr hiſtoriſch
von ihr vorgebracht wurde, als daß ſie jezt noch rein
und innig darin gelebt hätte; nichts deſto weniger war
die Fähigkeit unſchätzbar, ſich dieſe Gefühle lebendig
zu vergegenwärtigen, ſo wie der Vortheil, ſolche befe-
ſtigen und Neues daran knüpfen zu können, dem treuen
Henni höchſt willkommen war. Gegen einige grelle,
aus Mißverſtändniß der Bibelſprache entſtandene Vor-
ſtellungen, welche zwar von Hauſe aus Glaubensarti-
kel bei ihr geweſen ſeyn mochten, in reiferen Jahren
aber glücklich verdrungen, jezt wieder, auf eine närriſche
Art erweitert, zum Vorſchein kamen, hatte Henni
vorzüglich zu kämpfen. Beſonders kam er mit ihrer
falſchen Anwendung des Dämonenglaubens in’s Ge-
dränge, weil er dieſe Lehre, als eine an ſich ſelber wahre
und in der Schrift gegründete, unmöglich verwerfen
konnte.
Allein im höchſten Grad betrübend war es ihm,
wenn ſie, mitten aus der ſchönſten Ordnung her-
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fiel, oder auch wohl plötzlich auf ganz andre Dinge
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/279>, abgerufen am 25.11.2024.
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