seiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz des Mädchens aus tausend alten Wunden blutet, die seine Unbesonnenheit aufriß: und nun soll er da stehn, unthätig, gefesselt, sie rettungslos dem fürchterlichen Wahne überlassend? er soll die Thüre nicht augenblick- lich sprengen, die ihn von ihr absperrt! Einmal über's andre schleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht aufgethan. Zulezt erhält er ein Billet von ihr durch seine Schwester; der Inhalt gibt ihm zweideutigen Trost; sie bittet vor der Hand nur Ruhe und Ge- duld von ihm. Sie sey, hinterbrachte Nannette, mit einem größeren Briefe beschäftigt, gestehe aber nicht, an wen er gehe.
Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls die Feder zu ergreifen. Er bietet Allem auf, was ruhige Vernunft und was die treuste Liebe mit herz- gewinnenden Tönen in solchem äußersten Falle nur irgend zu sagen vermag. Dabei spricht er als Mann zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit sanftem Vorwurf an ihr Gewissen und schickt jedwedem leisen Tadel die kräftigsten Schwüre, die rührendsten Klagen verkannter Zärtlichkeit nach.
Am Abend kam der Präsident. Zum Glück traf er schon etwas hellere Gesichter, als er vor wenig Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen hatten dem Maler berichtet: Agnes sey ruhig, an- redsam und freundlich und habe nur gebeten, daß man sie heute noch sich selber überlasse; es sey ihr vor,
ſeiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz des Mädchens aus tauſend alten Wunden blutet, die ſeine Unbeſonnenheit aufriß: und nun ſoll er da ſtehn, unthätig, gefeſſelt, ſie rettungslos dem fürchterlichen Wahne überlaſſend? er ſoll die Thüre nicht augenblick- lich ſprengen, die ihn von ihr abſperrt! Einmal über’s andre ſchleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht aufgethan. Zulezt erhält er ein Billet von ihr durch ſeine Schweſter; der Inhalt gibt ihm zweideutigen Troſt; ſie bittet vor der Hand nur Ruhe und Ge- duld von ihm. Sie ſey, hinterbrachte Nannette, mit einem größeren Briefe beſchäftigt, geſtehe aber nicht, an wen er gehe.
Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls die Feder zu ergreifen. Er bietet Allem auf, was ruhige Vernunft und was die treuſte Liebe mit herz- gewinnenden Tönen in ſolchem äußerſten Falle nur irgend zu ſagen vermag. Dabei ſpricht er als Mann zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit ſanftem Vorwurf an ihr Gewiſſen und ſchickt jedwedem leiſen Tadel die kräftigſten Schwüre, die rührendſten Klagen verkannter Zärtlichkeit nach.
Am Abend kam der Präſident. Zum Glück traf er ſchon etwas hellere Geſichter, als er vor wenig Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen hatten dem Maler berichtet: Agnes ſey ruhig, an- redſam und freundlich und habe nur gebeten, daß man ſie heute noch ſich ſelber überlaſſe; es ſey ihr vor,
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ſeiner Lage; er fühlt, wie in dem Augenblick das Herz
des Mädchens aus tauſend alten Wunden blutet, die
ſeine Unbeſonnenheit aufriß: und nun ſoll er da ſtehn,
unthätig, gefeſſelt, ſie rettungslos dem fürchterlichen
Wahne überlaſſend? er ſoll die Thüre nicht augenblick-
lich ſprengen, die ihn von ihr abſperrt! Einmal über’s
andre ſchleicht er an ihre Schwelle; ihm wird nicht
aufgethan. Zulezt erhält er ein Billet von ihr durch
ſeine Schweſter; der Inhalt gibt ihm zweideutigen
Troſt; ſie bittet vor der Hand nur Ruhe und Ge-
duld von ihm. Sie ſey, hinterbrachte Nannette,
mit einem größeren Briefe beſchäftigt, geſtehe aber
nicht, an wen er gehe.
Dem Maler bleibt nichts übrig, als ebenfalls
die Feder zu ergreifen. Er bietet Allem auf, was
ruhige Vernunft und was die treuſte Liebe mit herz-
gewinnenden Tönen in ſolchem äußerſten Falle nur
irgend zu ſagen vermag. Dabei ſpricht er als Mann
zum krank verwöhnten Kinde, er rührt mit ſanftem
Vorwurf an ihr Gewiſſen und ſchickt jedwedem leiſen
Tadel die kräftigſten Schwüre, die rührendſten Klagen
verkannter Zärtlichkeit nach.
Am Abend kam der Präſident. Zum Glück traf
er ſchon etwas hellere Geſichter, als er vor wenig
Stunden noch gefunden haben würde. Die Mädchen
hatten dem Maler berichtet: Agnes ſey ruhig, an-
redſam und freundlich und habe nur gebeten, daß man
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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