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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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mit großer Erwartung gesprochen, einen höchst selte-
nen Genuß. Es war der Händel'sche Messias. Der
Maler, dem ein hiesiger Aufenthalt oft eine Art von
Ueberwindung kostete, weil er sich eine reine Todten-
trauer durch unvermeidliche Zerstreuungen fast jedes
Mal vereitelt und zersplittert sah, fand heute in
dem frommen Geist eines der herrlichsten Tonstücke
den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen,
mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend un-
mittelbar in den Musiksaal eintrat. Er hatte sich et-
was verspätet und mußte ganz entfernt von seiner
Gesellschaft, in einer der hintersten Ecken sich mit
dem bescheidensten Platze begnügen, den er jedoch mit
aller Wahl nicht besser hätte treffen können. Denn
ihn verlangte herzlich, die süße Wehmuth dieser Stunde
bis auf den lezten Tropfen rein für sich auszuschöpfen,
er sehnte sich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen
den ganzen Busen ohne Schonung Preis zu geben. --
Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzim-
mern (der Präsident war dießmal nicht dabei) im
schönsten Mondenschein nach Hause. Es hatte jenes
Meisterwerk dermaßen auf Alle gewirkt, daß es in
der ersten Viertelstunde, wo sie sich wieder im Gefährt
befanden, beinahe aussah, als hätte man ein Gelübde
gethan, auf alles und jedes Gespräch darüber zu ver-
zichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt
es dem theuren Larkens fast ausschließlich. Das
Fräulein offenbarte sich bei der Gelegenheit zum Er-

mit großer Erwartung geſprochen, einen höchſt ſelte-
nen Genuß. Es war der Händel’ſche Meſſias. Der
Maler, dem ein hieſiger Aufenthalt oft eine Art von
Ueberwindung koſtete, weil er ſich eine reine Todten-
trauer durch unvermeidliche Zerſtreuungen faſt jedes
Mal vereitelt und zerſplittert ſah, fand heute in
dem frommen Geiſt eines der herrlichſten Tonſtücke
den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen,
mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend un-
mittelbar in den Muſikſaal eintrat. Er hatte ſich et-
was verſpätet und mußte ganz entfernt von ſeiner
Geſellſchaft, in einer der hinterſten Ecken ſich mit
dem beſcheidenſten Platze begnügen, den er jedoch mit
aller Wahl nicht beſſer hätte treffen können. Denn
ihn verlangte herzlich, die ſüße Wehmuth dieſer Stunde
bis auf den lezten Tropfen rein für ſich auszuſchöpfen,
er ſehnte ſich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen
den ganzen Buſen ohne Schonung Preis zu geben. —
Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzim-
mern (der Präſident war dießmal nicht dabei) im
ſchönſten Mondenſchein nach Hauſe. Es hatte jenes
Meiſterwerk dermaßen auf Alle gewirkt, daß es in
der erſten Viertelſtunde, wo ſie ſich wieder im Gefährt
befanden, beinahe ausſah, als hätte man ein Gelübde
gethan, auf alles und jedes Geſpräch darüber zu ver-
zichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt
es dem theuren Larkens faſt ausſchließlich. Das
Fräulein offenbarte ſich bei der Gelegenheit zum Er-

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[551/0237] mit großer Erwartung geſprochen, einen höchſt ſelte- nen Genuß. Es war der Händel’ſche Meſſias. Der Maler, dem ein hieſiger Aufenthalt oft eine Art von Ueberwindung koſtete, weil er ſich eine reine Todten- trauer durch unvermeidliche Zerſtreuungen faſt jedes Mal vereitelt und zerſplittert ſah, fand heute in dem frommen Geiſt eines der herrlichſten Tonſtücke den übervollen Widerklang derjenigen Empfindungen, mit denen er vom Grabe des Geliebten kommend un- mittelbar in den Muſikſaal eintrat. Er hatte ſich et- was verſpätet und mußte ganz entfernt von ſeiner Geſellſchaft, in einer der hinterſten Ecken ſich mit dem beſcheidenſten Platze begnügen, den er jedoch mit aller Wahl nicht beſſer hätte treffen können. Denn ihn verlangte herzlich, die ſüße Wehmuth dieſer Stunde bis auf den lezten Tropfen rein für ſich auszuſchöpfen, er ſehnte ſich, dem Sturme gottgeweihter Schmerzen den ganzen Buſen ohne Schonung Preis zu geben. — Spät in der Nacht fuhr er mit den drei Frauenzim- mern (der Präſident war dießmal nicht dabei) im ſchönſten Mondenſchein nach Hauſe. Es hatte jenes Meiſterwerk dermaßen auf Alle gewirkt, daß es in der erſten Viertelſtunde, wo ſie ſich wieder im Gefährt befanden, beinahe ausſah, als hätte man ein Gelübde gethan, auf alles und jedes Geſpräch darüber zu ver- zichten; und als das Wort endlich gefunden war, galt es dem theuren Larkens faſt ausſchließlich. Das Fräulein offenbarte ſich bei der Gelegenheit zum Er-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/237>, abgerufen am 25.11.2024.