Perfektum Indikativi wollt' ich sagen -- O lachen Sie nicht -- ich bin der unglückseligste Mann, bin seit einiger Zeit am hiesigen Lycäo Präceptor der lateini- schen Sprache, habe mir's recht sauer werden lassen -- auch hatte es bis jezt keine Gefahr, man war mit mir zufrieden -- allein seit einer halben Stunde, bei dem verkehrten verfluchten Zeug da -- ich weiß nicht -- mein Gedächtniß -- die gemeinsten Wörter -- ich mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir, examino memoriam meam -- es ist mir, wie wenn mein Schulsack ein Löchlein, rimulam, bekommen hätte, zuerst nur ein ganz geringes, aber es wird immer größer, ich kann schon mit der Faust -- o entsetzlich! es rinnt mir schockweise Alles bei den Stiefeln hin- aus, praeceps fertur omnis eruditio, quasi ein Nach- laß der Natur -- o himmelschreiend, in einer halben Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem schlech- testen Trivialschüler gleich -- Lassen Sie mich hinaus, hinaus! ich sprenge die Verzäunung --"
Ich und der Legationsrath kamen ganz außer uns. Der Mensch aber, empört durch unser Lachen, schlug uns das Gitter vor der Nase zu und wir sahen ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten Anfangs, es wäre etwa eine komische Figur aus dem Lustspiele, der Legationsrath schwur scherzend, gar Tieck selber müsse es gewesen seyn. Indessen ging der lezte Aufzug an und ging gleich den ersten herr- lich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterirte Pub-
Perfektum Indikativi wollt’ ich ſagen — O lachen Sie nicht — ich bin der unglückſeligſte Mann, bin ſeit einiger Zeit am hieſigen Lycäo Präceptor der lateini- ſchen Sprache, habe mir’s recht ſauer werden laſſen — auch hatte es bis jezt keine Gefahr, man war mit mir zufrieden — allein ſeit einer halben Stunde, bei dem verkehrten verfluchten Zeug da — ich weiß nicht — mein Gedächtniß — die gemeinſten Wörter — ich mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir, examino memoriam meam — es iſt mir, wie wenn mein Schulſack ein Löchlein, rimulam, bekommen hätte, zuerſt nur ein ganz geringes, aber es wird immer größer, ich kann ſchon mit der Fauſt — o entſetzlich! es rinnt mir ſchockweiſe Alles bei den Stiefeln hin- aus, praeceps fertur omnis eruditio, quasi ein Nach- laß der Natur — o himmelſchreiend, in einer halben Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem ſchlech- teſten Trivialſchüler gleich — Laſſen Sie mich hinaus, hinaus! ich ſprenge die Verzäunung —“
Ich und der Legationsrath kamen ganz außer uns. Der Menſch aber, empört durch unſer Lachen, ſchlug uns das Gitter vor der Naſe zu und wir ſahen ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten Anfangs, es wäre etwa eine komiſche Figur aus dem Luſtſpiele, der Legationsrath ſchwur ſcherzend, gar Tieck ſelber müſſe es geweſen ſeyn. Indeſſen ging der lezte Aufzug an und ging gleich den erſten herr- lich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterirte Pub-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0208"n="522"/>
Perfektum Indikativi wollt’ ich ſagen — O lachen Sie<lb/>
nicht — ich bin der unglückſeligſte Mann, bin ſeit<lb/>
einiger Zeit am hieſigen Lycäo Präceptor der lateini-<lb/>ſchen Sprache, habe mir’s recht ſauer werden laſſen —<lb/>
auch hatte es bis jezt keine Gefahr, man war mit<lb/>
mir zufrieden — allein ſeit einer halben Stunde, bei<lb/>
dem verkehrten verfluchten Zeug da — ich weiß nicht —<lb/>
mein Gedächtniß — die gemeinſten Wörter — ich<lb/>
mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir,<lb/><hirendition="#aq">examino memoriam meam</hi>— es iſt mir, wie wenn<lb/>
mein Schulſack ein Löchlein, <hirendition="#aq">rimulam,</hi> bekommen hätte,<lb/>
zuerſt nur ein ganz geringes, aber es wird immer<lb/>
größer, ich kann ſchon mit der Fauſt — o entſetzlich!<lb/>
es rinnt mir ſchockweiſe Alles bei den Stiefeln hin-<lb/>
aus, <hirendition="#aq">praeceps fertur omnis eruditio, quasi</hi> ein Nach-<lb/>
laß der Natur — o himmelſchreiend, in einer halben<lb/>
Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem ſchlech-<lb/>
teſten Trivialſchüler gleich — Laſſen Sie mich hinaus,<lb/>
hinaus! ich ſprenge die Verzäunung —“</p><lb/><p>Ich und der Legationsrath kamen ganz außer<lb/>
uns. Der Menſch aber, empört durch unſer Lachen,<lb/>ſchlug uns das Gitter vor der Naſe zu und wir ſahen<lb/>
ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten<lb/>
Anfangs, es wäre etwa eine komiſche Figur aus dem<lb/>
Luſtſpiele, der Legationsrath ſchwur ſcherzend, gar<lb/><hirendition="#g">Tieck</hi>ſelber müſſe es geweſen ſeyn. Indeſſen ging<lb/>
der lezte Aufzug an und ging gleich den erſten herr-<lb/>
lich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterirte Pub-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[522/0208]
Perfektum Indikativi wollt’ ich ſagen — O lachen Sie
nicht — ich bin der unglückſeligſte Mann, bin ſeit
einiger Zeit am hieſigen Lycäo Präceptor der lateini-
ſchen Sprache, habe mir’s recht ſauer werden laſſen —
auch hatte es bis jezt keine Gefahr, man war mit
mir zufrieden — allein ſeit einer halben Stunde, bei
dem verkehrten verfluchten Zeug da — ich weiß nicht —
mein Gedächtniß — die gemeinſten Wörter — ich
mache von Minute zu Minute eine Probe mit mir,
examino memoriam meam — es iſt mir, wie wenn
mein Schulſack ein Löchlein, rimulam, bekommen hätte,
zuerſt nur ein ganz geringes, aber es wird immer
größer, ich kann ſchon mit der Fauſt — o entſetzlich!
es rinnt mir ſchockweiſe Alles bei den Stiefeln hin-
aus, praeceps fertur omnis eruditio, quasi ein Nach-
laß der Natur — o himmelſchreiend, in einer halben
Stunde bin ich rein ausgebeutelt, bin meinem ſchlech-
teſten Trivialſchüler gleich — Laſſen Sie mich hinaus,
hinaus! ich ſprenge die Verzäunung —“
Ich und der Legationsrath kamen ganz außer
uns. Der Menſch aber, empört durch unſer Lachen,
ſchlug uns das Gitter vor der Naſe zu und wir ſahen
ihn eine ganze Weile nicht wieder. Wir glaubten
Anfangs, es wäre etwa eine komiſche Figur aus dem
Luſtſpiele, der Legationsrath ſchwur ſcherzend, gar
Tieck ſelber müſſe es geweſen ſeyn. Indeſſen ging
der lezte Aufzug an und ging gleich den erſten herr-
lich vorüber. Der Vorhang fiel. Das alterirte Pub-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/208>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.