her geschehen was da wollte, eben als ginge sie's am wenigsten an, als werde sie nicht von dieser allgemei- nen Trauer, sondern von etwas ganz Anderem bewegt. Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das sie mit Niemand theilen zu können schien. Dann wie- der war ihr Wesen auf Einmal feierlich gehoben; sie griff die gewöhnlichen häuslichen Geschäfte mit aller äußern Ruhe an, wie sonst, aber nur der Körper, nicht der Geist, schien gegenwärtig zu seyn. Auf mit- leidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters be- kannte sie zulezt, daß eine unerklärliche Angst seit gestern an ihr sey, ein unbekannter Drang, der ihr Brust und Kehle zuschnüre. "Ich seh' euch alle wei- nen" rief sie aus, "und mir ist es nicht möglich. Ach Theobald, ach Vater, was für ein Zustand ist doch das! Mir ist, als würde jede andere Empfindung von dieser einzigen, von dieser Feuerpein der Angst verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine Thränen auf größeres Unglück aufsparen soll, das erst im Anzug ist!" Sie hatte dieses noch nicht aus- gesagt, als sie in das fürchterlichste Weinen ausbrach, worauf sie sich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging allein in's Gärtchen, und als Theobald nach einer Weile sie dort aufsuchte, kam sie ihm mit einer wei- chen Heiterkeit auf dem Gesicht, nur ungewöhnlich blaß, entgegen. Der Maler im Stillen war über ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie gesehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen
her geſchehen was da wollte, eben als ginge ſie’s am wenigſten an, als werde ſie nicht von dieſer allgemei- nen Trauer, ſondern von etwas ganz Anderem bewegt. Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das ſie mit Niemand theilen zu können ſchien. Dann wie- der war ihr Weſen auf Einmal feierlich gehoben; ſie griff die gewöhnlichen häuslichen Geſchäfte mit aller äußern Ruhe an, wie ſonſt, aber nur der Körper, nicht der Geiſt, ſchien gegenwärtig zu ſeyn. Auf mit- leidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters be- kannte ſie zulezt, daß eine unerklärliche Angſt ſeit geſtern an ihr ſey, ein unbekannter Drang, der ihr Bruſt und Kehle zuſchnüre. „Ich ſeh’ euch alle wei- nen“ rief ſie aus, „und mir iſt es nicht möglich. Ach Theobald, ach Vater, was für ein Zuſtand iſt doch das! Mir iſt, als würde jede andere Empfindung von dieſer einzigen, von dieſer Feuerpein der Angſt verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine Thränen auf größeres Unglück aufſparen ſoll, das erſt im Anzug iſt!“ Sie hatte dieſes noch nicht aus- geſagt, als ſie in das fürchterlichſte Weinen ausbrach, worauf ſie ſich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging allein in’s Gärtchen, und als Theobald nach einer Weile ſie dort aufſuchte, kam ſie ihm mit einer wei- chen Heiterkeit auf dem Geſicht, nur ungewöhnlich blaß, entgegen. Der Maler im Stillen war über ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie geſehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0155"n="469"/>
her geſchehen was da wollte, eben als ginge ſie’s am<lb/>
wenigſten an, als werde ſie nicht von dieſer allgemei-<lb/>
nen Trauer, ſondern von etwas ganz Anderem bewegt.<lb/>
Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das ſie<lb/>
mit Niemand theilen zu können ſchien. Dann wie-<lb/>
der war ihr Weſen auf Einmal feierlich gehoben; ſie<lb/>
griff die gewöhnlichen häuslichen Geſchäfte mit aller<lb/>
äußern Ruhe an, wie ſonſt, aber nur der Körper,<lb/>
nicht der Geiſt, ſchien gegenwärtig zu ſeyn. Auf mit-<lb/>
leidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters be-<lb/>
kannte ſie zulezt, daß eine unerklärliche Angſt ſeit<lb/>
geſtern an ihr ſey, ein unbekannter Drang, der ihr<lb/>
Bruſt und Kehle zuſchnüre. „Ich ſeh’ euch alle wei-<lb/>
nen“ rief ſie aus, „und mir iſt es nicht möglich. Ach<lb/><hirendition="#g">Theobald</hi>, ach Vater, was für ein Zuſtand iſt doch<lb/>
das! Mir iſt, als würde jede andere Empfindung<lb/>
von dieſer einzigen, von dieſer Feuerpein der Angſt<lb/>
verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine<lb/>
Thränen auf größeres Unglück aufſparen ſoll, das<lb/>
erſt im Anzug iſt!“ Sie hatte dieſes noch nicht aus-<lb/>
geſagt, als ſie in das fürchterlichſte Weinen ausbrach,<lb/>
worauf ſie ſich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging<lb/>
allein in’s Gärtchen, und als <hirendition="#g">Theobald</hi> nach einer<lb/>
Weile ſie dort aufſuchte, kam ſie ihm mit einer wei-<lb/>
chen Heiterkeit auf dem Geſicht, nur ungewöhnlich<lb/>
blaß, entgegen. Der Maler im Stillen war über<lb/>
ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie<lb/>
geſehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[469/0155]
her geſchehen was da wollte, eben als ginge ſie’s am
wenigſten an, als werde ſie nicht von dieſer allgemei-
nen Trauer, ſondern von etwas ganz Anderem bewegt.
Sie kämpfte mit Erhebung gegen ein Gefühl, das ſie
mit Niemand theilen zu können ſchien. Dann wie-
der war ihr Weſen auf Einmal feierlich gehoben; ſie
griff die gewöhnlichen häuslichen Geſchäfte mit aller
äußern Ruhe an, wie ſonſt, aber nur der Körper,
nicht der Geiſt, ſchien gegenwärtig zu ſeyn. Auf mit-
leidiges Zudringen des Bräutigams und Vaters be-
kannte ſie zulezt, daß eine unerklärliche Angſt ſeit
geſtern an ihr ſey, ein unbekannter Drang, der ihr
Bruſt und Kehle zuſchnüre. „Ich ſeh’ euch alle wei-
nen“ rief ſie aus, „und mir iſt es nicht möglich. Ach
Theobald, ach Vater, was für ein Zuſtand iſt doch
das! Mir iſt, als würde jede andere Empfindung
von dieſer einzigen, von dieſer Feuerpein der Angſt
verzehrt. O wenn es wahr wäre, daß ich meine
Thränen auf größeres Unglück aufſparen ſoll, das
erſt im Anzug iſt!“ Sie hatte dieſes noch nicht aus-
geſagt, als ſie in das fürchterlichſte Weinen ausbrach,
worauf ſie ſich auch bald erleichtert fühlte. Sie ging
allein in’s Gärtchen, und als Theobald nach einer
Weile ſie dort aufſuchte, kam ſie ihm mit einer wei-
chen Heiterkeit auf dem Geſicht, nur ungewöhnlich
blaß, entgegen. Der Maler im Stillen war über
ihre Schönheit verwundert, die er vollkommener nie
geſehen hatte. Sie fing gleich an, jene traurigen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/155>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.