Boden fortgewuchert habe. Daraus wäre von dem Riesen Flömer eine unermeßliche Strickleiter gemacht worden, die er gegen den halben Mond geworfen; das eine Ende sey mit der Schleife am silbernen Horne hängen blieben und nun sey der Riese trium- phirend zum Himmel hinauf geklettert. Agnes er- innerte, im Gegensatz zu solchen Ungeheuern, an eine kleine anmuthige Elfengeschichte, die Nolten als Knabe ihr vorgemacht hatte, und so gab Jedes einen Beitrag her; auch die drei andern jungen Leute blie- ben nicht zurück, vielmehr diese trauliche Dunkelheit schien sie nun erst mehr aufzuwecken. Der Bildhauer fand den Gedanken Noltens, daß, um die roman- tische Fahrt vollkommen zu machen, Raymund noth- wendig Henrietten auf seinem Rappen hinter sich haben sollte, ganz zum Entzücken, und sogleich fing er an, die sämmtlichen Balladen, welche von nächtli- chen Entführungen, Gespensterbräuten u. s. w. han- deln, mit Pathos zu recitiren. Nun war es aber für unsre beiden Liebenden der süßeste Genuß, zwi- schen alle diesen Spielen einer unstet umherflackern- den Einbildung auf Augenblicke heimlich im stilleren Herzen einzukehren und die Gedanken auf das Bild der nächsten reizenden Zukunft zu richten, sich einan- der mit einem halben Wort in's Ohr, mit einem Händedruck zu sagen, wie man sich fühle, was Eines am Andern besitze, wie viel man sich erst künftig noch zu werden hoffe.
Boden fortgewuchert habe. Daraus wäre von dem Rieſen Flömer eine unermeßliche Strickleiter gemacht worden, die er gegen den halben Mond geworfen; das eine Ende ſey mit der Schleife am ſilbernen Horne hängen blieben und nun ſey der Rieſe trium- phirend zum Himmel hinauf geklettert. Agnes er- innerte, im Gegenſatz zu ſolchen Ungeheuern, an eine kleine anmuthige Elfengeſchichte, die Nolten als Knabe ihr vorgemacht hatte, und ſo gab Jedes einen Beitrag her; auch die drei andern jungen Leute blie- ben nicht zurück, vielmehr dieſe trauliche Dunkelheit ſchien ſie nun erſt mehr aufzuwecken. Der Bildhauer fand den Gedanken Noltens, daß, um die roman- tiſche Fahrt vollkommen zu machen, Raymund noth- wendig Henrietten auf ſeinem Rappen hinter ſich haben ſollte, ganz zum Entzücken, und ſogleich fing er an, die ſämmtlichen Balladen, welche von nächtli- chen Entführungen, Geſpenſterbräuten u. ſ. w. han- deln, mit Pathos zu recitiren. Nun war es aber für unſre beiden Liebenden der ſüßeſte Genuß, zwi- ſchen alle dieſen Spielen einer unſtet umherflackern- den Einbildung auf Augenblicke heimlich im ſtilleren Herzen einzukehren und die Gedanken auf das Bild der nächſten reizenden Zukunft zu richten, ſich einan- der mit einem halben Wort in’s Ohr, mit einem Händedruck zu ſagen, wie man ſich fühle, was Eines am Andern beſitze, wie viel man ſich erſt künftig noch zu werden hoffe.
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Boden fortgewuchert habe. Daraus wäre von dem
Rieſen Flömer eine unermeßliche Strickleiter gemacht
worden, die er gegen den halben Mond geworfen;
das eine Ende ſey mit der Schleife am ſilbernen
Horne hängen blieben und nun ſey der Rieſe trium-
phirend zum Himmel hinauf geklettert. Agnes er-
innerte, im Gegenſatz zu ſolchen Ungeheuern, an eine
kleine anmuthige Elfengeſchichte, die Nolten als
Knabe ihr vorgemacht hatte, und ſo gab Jedes einen
Beitrag her; auch die drei andern jungen Leute blie-
ben nicht zurück, vielmehr dieſe trauliche Dunkelheit
ſchien ſie nun erſt mehr aufzuwecken. Der Bildhauer
fand den Gedanken Noltens, daß, um die roman-
tiſche Fahrt vollkommen zu machen, Raymund noth-
wendig Henrietten auf ſeinem Rappen hinter ſich
haben ſollte, ganz zum Entzücken, und ſogleich fing
er an, die ſämmtlichen Balladen, welche von nächtli-
chen Entführungen, Geſpenſterbräuten u. ſ. w. han-
deln, mit Pathos zu recitiren. Nun war es aber
für unſre beiden Liebenden der ſüßeſte Genuß, zwi-
ſchen alle dieſen Spielen einer unſtet umherflackern-
den Einbildung auf Augenblicke heimlich im ſtilleren
Herzen einzukehren und die Gedanken auf das Bild
der nächſten reizenden Zukunft zu richten, ſich einan-
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am Andern beſitze, wie viel man ſich erſt künftig noch
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/152>, abgerufen am 24.11.2024.
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