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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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genommen, dem er eine nochmalige genaue Nachfor-
schung dringendst empfahl. Allein nach mehreren
Wochen erhielt er auf eine höchst unerwartete Weise
die vollkommenste Bestätigung seines Argwohns, und
zwar durch das ausführliche Schreiben Otto Lien-
hart's
, -- ein Name, den er früher einmal gele-
gentlich von Agnes gehört zu haben sich sogleich er-
innerte. Daß dieß eine und dieselbe Person mit dem
mehrerwähnten Vetter sey, brauchen wir kaum anzu-
merken.

Der Eingang des Briefes nimmt auf eine eben
so bescheidene als verständige Art das Vertrauen
Theobalds in Anspruch; der Unbekannte bittet um
ruhiges und männliches Gehör für dasjenige, was
er vorzutragen habe; es sey, versicherte er, so son-
derbar und so feindselig gar nicht, als es wohl in dem
ersten Augenblicke erscheinen könnte. Nun geht er
auf das innere Mißverhältniß der Verlobten über,
wie die Natur der Charaktere ein solches wesentlich
und nothwendig begründe, ohne daß einem der beiden
Theile das Geringste dabei zur Schuld falle. Sodann
wird die Neigung des Mädchens zu ihm, dem
Vetter, entwickelt, gerechtfertigt und endlich wird
ohne Anmaßung erklärt, in welchem Sinne er Ag-
nesen
ihren ersten Freund, dessen eigenthümlichen
Werth sie noch immer verehre, zu ersetzen hoffen
dürfe. Wenn nun die angeführten Gründe hinreichen
würden, um Nolten zu freiwilliger Abtretung seiner

genommen, dem er eine nochmalige genaue Nachfor-
ſchung dringendſt empfahl. Allein nach mehreren
Wochen erhielt er auf eine höchſt unerwartete Weiſe
die vollkommenſte Beſtätigung ſeines Argwohns, und
zwar durch das ausführliche Schreiben Otto Lien-
hart’s
, — ein Name, den er früher einmal gele-
gentlich von Agnes gehört zu haben ſich ſogleich er-
innerte. Daß dieß eine und dieſelbe Perſon mit dem
mehrerwähnten Vetter ſey, brauchen wir kaum anzu-
merken.

Der Eingang des Briefes nimmt auf eine eben
ſo beſcheidene als verſtändige Art das Vertrauen
Theobalds in Anſpruch; der Unbekannte bittet um
ruhiges und männliches Gehör für dasjenige, was
er vorzutragen habe; es ſey, verſicherte er, ſo ſon-
derbar und ſo feindſelig gar nicht, als es wohl in dem
erſten Augenblicke erſcheinen könnte. Nun geht er
auf das innere Mißverhältniß der Verlobten über,
wie die Natur der Charaktere ein ſolches weſentlich
und nothwendig begründe, ohne daß einem der beiden
Theile das Geringſte dabei zur Schuld falle. Sodann
wird die Neigung des Mädchens zu ihm, dem
Vetter, entwickelt, gerechtfertigt und endlich wird
ohne Anmaßung erklärt, in welchem Sinne er Ag-
neſen
ihren erſten Freund, deſſen eigenthümlichen
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[89/0097] genommen, dem er eine nochmalige genaue Nachfor- ſchung dringendſt empfahl. Allein nach mehreren Wochen erhielt er auf eine höchſt unerwartete Weiſe die vollkommenſte Beſtätigung ſeines Argwohns, und zwar durch das ausführliche Schreiben Otto Lien- hart’s, — ein Name, den er früher einmal gele- gentlich von Agnes gehört zu haben ſich ſogleich er- innerte. Daß dieß eine und dieſelbe Perſon mit dem mehrerwähnten Vetter ſey, brauchen wir kaum anzu- merken. Der Eingang des Briefes nimmt auf eine eben ſo beſcheidene als verſtändige Art das Vertrauen Theobalds in Anſpruch; der Unbekannte bittet um ruhiges und männliches Gehör für dasjenige, was er vorzutragen habe; es ſey, verſicherte er, ſo ſon- derbar und ſo feindſelig gar nicht, als es wohl in dem erſten Augenblicke erſcheinen könnte. Nun geht er auf das innere Mißverhältniß der Verlobten über, wie die Natur der Charaktere ein ſolches weſentlich und nothwendig begründe, ohne daß einem der beiden Theile das Geringſte dabei zur Schuld falle. Sodann wird die Neigung des Mädchens zu ihm, dem Vetter, entwickelt, gerechtfertigt und endlich wird ohne Anmaßung erklärt, in welchem Sinne er Ag- neſen ihren erſten Freund, deſſen eigenthümlichen Werth ſie noch immer verehre, zu erſetzen hoffen dürfe. Wenn nun die angeführten Gründe hinreichen würden, um Nolten zu freiwilliger Abtretung ſeiner

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/97>, abgerufen am 28.11.2024.