serer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine Rechenschaft geben und denen wir nicht widerstehen können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum Schlaf ohne Bewußtseyn und sind nachher ihn zu be- zeichnen nicht im Stande: so ward in Agnes nach und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit ihres Schicksals und Noltens befestigt, ohne daß sie genau wußte, wann und wodurch dieser Gedanke eine unwiderstehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten und verehrten Manne, hinter dessen Geist sie sich weit zurückstellte, den sie durch ihre Hand nur unglücklich zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch ihm selbst nicht mehr verborgen bleiben könne, wie wenig sie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß Gefühl, das unstreitig aus dem reinsten Grunde un- eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geschöpf all- mählig einer frommen und in sich selber trostvollen Resignation entgegendrängte, so wurde der Entschluß freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder durch eine Idee verkümmert, welche sich sehr natürlich aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt seine ursprüngliche Gesinnung verläugnete, wenn er dem ersten reinen Zuge seines Herzens untreu würde; und so betrachtete sich nun Agnes schon zum Voraus auf's Tiefste gekränkt von dem Verlobten, sie war versucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,
ſerer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine Rechenſchaft geben und denen wir nicht widerſtehen können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum Schlaf ohne Bewußtſeyn und ſind nachher ihn zu be- zeichnen nicht im Stande: ſo ward in Agnes nach und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit ihres Schickſals und Noltens befeſtigt, ohne daß ſie genau wußte, wann und wodurch dieſer Gedanke eine unwiderſtehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten und verehrten Manne, hinter deſſen Geiſt ſie ſich weit zurückſtellte, den ſie durch ihre Hand nur unglücklich zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch ihm ſelbſt nicht mehr verborgen bleiben könne, wie wenig ſie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß Gefühl, das unſtreitig aus dem reinſten Grunde un- eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geſchöpf all- mählig einer frommen und in ſich ſelber troſtvollen Reſignation entgegendrängte, ſo wurde der Entſchluß freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder durch eine Idee verkümmert, welche ſich ſehr natürlich aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt ſeine urſprüngliche Geſinnung verläugnete, wenn er dem erſten reinen Zuge ſeines Herzens untreu würde; und ſo betrachtete ſich nun Agnes ſchon zum Voraus auf’s Tiefſte gekränkt von dem Verlobten, ſie war verſucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,
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ſerer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine
Rechenſchaft geben und denen wir nicht widerſtehen
können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum
Schlaf ohne Bewußtſeyn und ſind nachher ihn zu be-
zeichnen nicht im Stande: ſo ward in Agnes nach
und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit
ihres Schickſals und Noltens befeſtigt, ohne daß ſie
genau wußte, wann und wodurch dieſer Gedanke eine
unwiderſtehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre
Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten
und verehrten Manne, hinter deſſen Geiſt ſie ſich weit
zurückſtellte, den ſie durch ihre Hand nur unglücklich
zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch
ihm ſelbſt nicht mehr verborgen bleiben könne, wie
wenig ſie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß
Gefühl, das unſtreitig aus dem reinſten Grunde un-
eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geſchöpf all-
mählig einer frommen und in ſich ſelber troſtvollen
Reſignation entgegendrängte, ſo wurde der Entſchluß
freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder
durch eine Idee verkümmert, welche ſich ſehr natürlich
aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur
in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt
ſeine urſprüngliche Geſinnung verläugnete, wenn er
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und ſo betrachtete ſich nun Agnes ſchon zum Voraus
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/83>, abgerufen am 27.11.2024.
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