Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

setzlichen Macht anzugehören, sie hatte etwas erfahren,
was sie nicht wissen sollte, sie hatte eine Frucht ge-
kostet, die unreif von dem Baume des Schicksals ab-
gerissen, nur Unheil und Verzweiflung bringen müsse.
Ihr Busen stritt mit hundertfältigen Entschlüssen und
ihre Phantasie stand im Begriffe, den Rand zu über-
steigen. Sie hätte sterben mögen, oder sollte Gott
ihrer Neugierde verzeihen und schnell das fürchterliche
Bewußtseyn jener Worte von ihr nehmen, die sich
wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und
deren Wahrheit sie nicht umstoßen konnte.

Erschöpft kam sie nach Hause und legte sich so-
gleich mit einem starken Froste; der Alte befürchtete
einen Rückfall in das kürzlich erst besiegte Uebel,
allein vom wahren Grunde ihres Zustandes kam keine
Sylbe über ihre Lippen. Sie ließ sich ältere und
neuere Briefe Theobalds auf's Bette bringen, aber
statt des gehofften Trostes fand sie beinahe das Ge-
gentheil; das liebevollste Wort, die zärtlichsten Ver-
sicherungen, schon gleichsam angeweht vom vergiften-
den Hauche der Zukunft, betrachtete sie mit Wehmuth,
wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als
Zeichen vergangener schöner Augenblicke aufbewahrten:
ihr Wohlgeruch ist weg und bald wird jede Farben-
spur daran verbleichen.

Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten sie mit
desto ungeduldigerem Schmerz, je mehr sie Theobal-
den
noch in dem vollen Irrthum seiner Liebe befan-

ſetzlichen Macht anzugehören, ſie hatte etwas erfahren,
was ſie nicht wiſſen ſollte, ſie hatte eine Frucht ge-
koſtet, die unreif von dem Baume des Schickſals ab-
geriſſen, nur Unheil und Verzweiflung bringen müſſe.
Ihr Buſen ſtritt mit hundertfältigen Entſchlüſſen und
ihre Phantaſie ſtand im Begriffe, den Rand zu über-
ſteigen. Sie hätte ſterben mögen, oder ſollte Gott
ihrer Neugierde verzeihen und ſchnell das fürchterliche
Bewußtſeyn jener Worte von ihr nehmen, die ſich
wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und
deren Wahrheit ſie nicht umſtoßen konnte.

Erſchöpft kam ſie nach Hauſe und legte ſich ſo-
gleich mit einem ſtarken Froſte; der Alte befürchtete
einen Rückfall in das kürzlich erſt beſiegte Uebel,
allein vom wahren Grunde ihres Zuſtandes kam keine
Sylbe über ihre Lippen. Sie ließ ſich ältere und
neuere Briefe Theobalds auf’s Bette bringen, aber
ſtatt des gehofften Troſtes fand ſie beinahe das Ge-
gentheil; das liebevollſte Wort, die zärtlichſten Ver-
ſicherungen, ſchon gleichſam angeweht vom vergiften-
den Hauche der Zukunft, betrachtete ſie mit Wehmuth,
wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als
Zeichen vergangener ſchöner Augenblicke aufbewahrten:
ihr Wohlgeruch iſt weg und bald wird jede Farben-
ſpur daran verbleichen.

Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten ſie mit
deſto ungeduldigerem Schmerz, je mehr ſie Theobal-
den
noch in dem vollen Irrthum ſeiner Liebe befan-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0081" n="73"/>
&#x017F;etzlichen Macht anzugehören, &#x017F;ie hatte etwas erfahren,<lb/>
was &#x017F;ie nicht wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollte, &#x017F;ie hatte eine Frucht ge-<lb/>
ko&#x017F;tet, die unreif von dem Baume des Schick&#x017F;als ab-<lb/>
geri&#x017F;&#x017F;en, nur Unheil und Verzweiflung bringen mü&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Ihr Bu&#x017F;en &#x017F;tritt mit hundertfältigen Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en und<lb/>
ihre Phanta&#x017F;ie &#x017F;tand im Begriffe, den Rand zu über-<lb/>
&#x017F;teigen. Sie hätte &#x017F;terben mögen, oder &#x017F;ollte Gott<lb/>
ihrer Neugierde verzeihen und &#x017F;chnell das fürchterliche<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn jener Worte von ihr nehmen, die &#x017F;ich<lb/>
wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und<lb/>
deren Wahrheit &#x017F;ie nicht um&#x017F;toßen konnte.</p><lb/>
          <p>Er&#x017F;chöpft kam &#x017F;ie nach Hau&#x017F;e und legte &#x017F;ich &#x017F;o-<lb/>
gleich mit einem &#x017F;tarken Fro&#x017F;te; der Alte befürchtete<lb/>
einen Rückfall in das kürzlich er&#x017F;t be&#x017F;iegte Uebel,<lb/>
allein vom wahren Grunde ihres Zu&#x017F;tandes kam keine<lb/>
Sylbe über ihre Lippen. Sie ließ &#x017F;ich ältere und<lb/>
neuere Briefe <hi rendition="#g">Theobalds</hi> auf&#x2019;s Bette bringen, aber<lb/>
&#x017F;tatt des gehofften Tro&#x017F;tes fand &#x017F;ie beinahe das Ge-<lb/>
gentheil; das liebevoll&#x017F;te Wort, die zärtlich&#x017F;ten Ver-<lb/>
&#x017F;icherungen, &#x017F;chon gleich&#x017F;am angeweht vom vergiften-<lb/>
den Hauche der Zukunft, betrachtete &#x017F;ie mit Wehmuth,<lb/>
wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als<lb/>
Zeichen vergangener &#x017F;chöner Augenblicke aufbewahrten:<lb/>
ihr Wohlgeruch i&#x017F;t weg und bald wird jede Farben-<lb/>
&#x017F;pur daran verbleichen.</p><lb/>
          <p>Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten &#x017F;ie mit<lb/>
de&#x017F;to ungeduldigerem Schmerz, je mehr &#x017F;ie <hi rendition="#g">Theobal-<lb/>
den</hi> noch in dem vollen Irrthum &#x017F;einer Liebe befan-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0081] ſetzlichen Macht anzugehören, ſie hatte etwas erfahren, was ſie nicht wiſſen ſollte, ſie hatte eine Frucht ge- koſtet, die unreif von dem Baume des Schickſals ab- geriſſen, nur Unheil und Verzweiflung bringen müſſe. Ihr Buſen ſtritt mit hundertfältigen Entſchlüſſen und ihre Phantaſie ſtand im Begriffe, den Rand zu über- ſteigen. Sie hätte ſterben mögen, oder ſollte Gott ihrer Neugierde verzeihen und ſchnell das fürchterliche Bewußtſeyn jener Worte von ihr nehmen, die ſich wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und deren Wahrheit ſie nicht umſtoßen konnte. Erſchöpft kam ſie nach Hauſe und legte ſich ſo- gleich mit einem ſtarken Froſte; der Alte befürchtete einen Rückfall in das kürzlich erſt beſiegte Uebel, allein vom wahren Grunde ihres Zuſtandes kam keine Sylbe über ihre Lippen. Sie ließ ſich ältere und neuere Briefe Theobalds auf’s Bette bringen, aber ſtatt des gehofften Troſtes fand ſie beinahe das Ge- gentheil; das liebevollſte Wort, die zärtlichſten Ver- ſicherungen, ſchon gleichſam angeweht vom vergiften- den Hauche der Zukunft, betrachtete ſie mit Wehmuth, wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als Zeichen vergangener ſchöner Augenblicke aufbewahrten: ihr Wohlgeruch iſt weg und bald wird jede Farben- ſpur daran verbleichen. Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten ſie mit deſto ungeduldigerem Schmerz, je mehr ſie Theobal- den noch in dem vollen Irrthum ſeiner Liebe befan-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/81
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/81>, abgerufen am 26.11.2024.