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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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behalten Recht. Vergib, daß ich die Wahrheit sagte;
aber Wermuth kann auch Arznei seyn, und sey ver-
sichert, Zeit bringt Rosen."

Hier stand die Fremde auf. Agnes, im Innern
wie gelähmt und an den Gliedern wie gebunden, ver-
mochte kaum sich zu erheben, sie hatte nicht den Muth,
die Augen aufzuschlagen, es war ihr leid, daß sie ver-
rieth, wie sehr sie sich getroffen fühlte. Und doch, in-
dem sie auf's Neue in das Gesicht der Unbekannten
sah, glaubte sie etwas unbeschreiblich Hohes, Vertrauen-
erweckendes, ja Längstbekanntes zu entdecken, in dessen
seelenvollem Anblicke der Geist sich von der Last des
gegenwärtigen Schmerzens befreie, ja selbst die Angst
der Zukunft überwinde.

"Behüt' dich Gott, mein Täubchen! und hab' im-
merhin guten Muth. Läßt dich die Liebe mit Einer
Hand los, so faßt sie dich gleich wieder mit der an-
dern. Und stoße nur dein neues Glück nicht eigen-
sinnig von dir; es ist gefährlich, dem Gestirn Trotz
bieten. Nun noch das Lezte: bevor ein Jahr um ist,
wirst du Niemand verrathen, was ich dir gesagt; es
möchte schlimm ausfallen, hörst du wohl?"

Dieß Leztere hatte die Zigeunerin mit besonderem
Nachdrucke gesprochen. Auf's Aeußerste ergriffen dankte
das Mädchen beim Abschiede und reichte der Fremden
ein feines Tuch zum Angedenken hin.

Agnes war allein und vermochte kaum sich sel-
ber wieder zu erkennen; sie glaubte einer fremden, ent-

behalten Recht. Vergib, daß ich die Wahrheit ſagte;
aber Wermuth kann auch Arznei ſeyn, und ſey ver-
ſichert, Zeit bringt Roſen.“

Hier ſtand die Fremde auf. Agnes, im Innern
wie gelähmt und an den Gliedern wie gebunden, ver-
mochte kaum ſich zu erheben, ſie hatte nicht den Muth,
die Augen aufzuſchlagen, es war ihr leid, daß ſie ver-
rieth, wie ſehr ſie ſich getroffen fühlte. Und doch, in-
dem ſie auf’s Neue in das Geſicht der Unbekannten
ſah, glaubte ſie etwas unbeſchreiblich Hohes, Vertrauen-
erweckendes, ja Längſtbekanntes zu entdecken, in deſſen
ſeelenvollem Anblicke der Geiſt ſich von der Laſt des
gegenwärtigen Schmerzens befreie, ja ſelbſt die Angſt
der Zukunft überwinde.

„Behüt’ dich Gott, mein Täubchen! und hab’ im-
merhin guten Muth. Läßt dich die Liebe mit Einer
Hand los, ſo faßt ſie dich gleich wieder mit der an-
dern. Und ſtoße nur dein neues Glück nicht eigen-
ſinnig von dir; es iſt gefährlich, dem Geſtirn Trotz
bieten. Nun noch das Lezte: bevor ein Jahr um iſt,
wirſt du Niemand verrathen, was ich dir geſagt; es
möchte ſchlimm ausfallen, hörſt du wohl?“

Dieß Leztere hatte die Zigeunerin mit beſonderem
Nachdrucke geſprochen. Auf’s Aeußerſte ergriffen dankte
das Mädchen beim Abſchiede und reichte der Fremden
ein feines Tuch zum Angedenken hin.

Agnes war allein und vermochte kaum ſich ſel-
ber wieder zu erkennen; ſie glaubte einer fremden, ent-

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[72/0080] behalten Recht. Vergib, daß ich die Wahrheit ſagte; aber Wermuth kann auch Arznei ſeyn, und ſey ver- ſichert, Zeit bringt Roſen.“ Hier ſtand die Fremde auf. Agnes, im Innern wie gelähmt und an den Gliedern wie gebunden, ver- mochte kaum ſich zu erheben, ſie hatte nicht den Muth, die Augen aufzuſchlagen, es war ihr leid, daß ſie ver- rieth, wie ſehr ſie ſich getroffen fühlte. Und doch, in- dem ſie auf’s Neue in das Geſicht der Unbekannten ſah, glaubte ſie etwas unbeſchreiblich Hohes, Vertrauen- erweckendes, ja Längſtbekanntes zu entdecken, in deſſen ſeelenvollem Anblicke der Geiſt ſich von der Laſt des gegenwärtigen Schmerzens befreie, ja ſelbſt die Angſt der Zukunft überwinde. „Behüt’ dich Gott, mein Täubchen! und hab’ im- merhin guten Muth. Läßt dich die Liebe mit Einer Hand los, ſo faßt ſie dich gleich wieder mit der an- dern. Und ſtoße nur dein neues Glück nicht eigen- ſinnig von dir; es iſt gefährlich, dem Geſtirn Trotz bieten. Nun noch das Lezte: bevor ein Jahr um iſt, wirſt du Niemand verrathen, was ich dir geſagt; es möchte ſchlimm ausfallen, hörſt du wohl?“ Dieß Leztere hatte die Zigeunerin mit beſonderem Nachdrucke geſprochen. Auf’s Aeußerſte ergriffen dankte das Mädchen beim Abſchiede und reichte der Fremden ein feines Tuch zum Angedenken hin. Agnes war allein und vermochte kaum ſich ſel- ber wieder zu erkennen; ſie glaubte einer fremden, ent-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/80>, abgerufen am 26.11.2024.