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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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sie sprach wenig, eine stille, gegen Gott gewendete
Freude schien ihr den Mund zu verschließen und ih-
ren Fuß im leichten Gang vom Boden aufzuheben;
ihr war, als sey ihr Inneres nur Licht und Sonne;
ein deutliches Gefühl von körperlicher Kraft schien
sich mit einem kleinen Rest von Schwäche angenehm
bei ihr zu mischen; sie kehrte früher um und nahm
Abschied von Otto, damit sie völlig ungestört sich
dem Ueberflusse des Entzückens und des Danks hin-
geben könne.

Ihr Weg führte sie durch ein Birkenwäldchen,
bei dessen lezten Büschen sie eine Zigeunerin allein
am Rasen sitzen fand, eine Person von ansprechendem
und trotz ihres gesezten Alters noch immer von jung-
fräulichem Aussehen. Man grüßt sich, Agnes geht
weiter, und hat kaum fünfzehn Schritte zurückgelegt,
als sie bereuet, die Unbekannte nicht angeredet zu
haben, deren ganzes Wesen und freundlich bedeuten-
der Blick doch sogleich den größten Eindruck auf sie
gemacht hatte. Sie besinnt sich, sie lenkt um und
eine Unterredung wird angeknüpft. Nach einer Weile,
während der man gleichgültige Dinge gesprochen,
pflückt das braune Mädchen gleichsam spielend einige
Gräser, knüpft sie in eine regelmäßige Figur zusam-
men, lös't sodann kopfschüttelnd den einen oder an-
dern Knoten wieder auf und sagt: "Sezt Euch zu
mir. -- Der Herr, den Ihr da vorhin ausgefolgt,

ſie ſprach wenig, eine ſtille, gegen Gott gewendete
Freude ſchien ihr den Mund zu verſchließen und ih-
ren Fuß im leichten Gang vom Boden aufzuheben;
ihr war, als ſey ihr Inneres nur Licht und Sonne;
ein deutliches Gefühl von körperlicher Kraft ſchien
ſich mit einem kleinen Reſt von Schwäche angenehm
bei ihr zu miſchen; ſie kehrte früher um und nahm
Abſchied von Otto, damit ſie völlig ungeſtört ſich
dem Ueberfluſſe des Entzückens und des Danks hin-
geben könne.

Ihr Weg führte ſie durch ein Birkenwäldchen,
bei deſſen lezten Büſchen ſie eine Zigeunerin allein
am Raſen ſitzen fand, eine Perſon von anſprechendem
und trotz ihres geſezten Alters noch immer von jung-
fräulichem Ausſehen. Man grüßt ſich, Agnes geht
weiter, und hat kaum fünfzehn Schritte zurückgelegt,
als ſie bereuet, die Unbekannte nicht angeredet zu
haben, deren ganzes Weſen und freundlich bedeuten-
der Blick doch ſogleich den größten Eindruck auf ſie
gemacht hatte. Sie beſinnt ſich, ſie lenkt um und
eine Unterredung wird angeknüpft. Nach einer Weile,
während der man gleichgültige Dinge geſprochen,
pflückt das braune Mädchen gleichſam ſpielend einige
Gräſer, knüpft ſie in eine regelmäßige Figur zuſam-
men, löſ’t ſodann kopfſchüttelnd den einen oder an-
dern Knoten wieder auf und ſagt: „Sezt Euch zu
mir. — Der Herr, den Ihr da vorhin ausgefolgt,

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[70/0078] ſie ſprach wenig, eine ſtille, gegen Gott gewendete Freude ſchien ihr den Mund zu verſchließen und ih- ren Fuß im leichten Gang vom Boden aufzuheben; ihr war, als ſey ihr Inneres nur Licht und Sonne; ein deutliches Gefühl von körperlicher Kraft ſchien ſich mit einem kleinen Reſt von Schwäche angenehm bei ihr zu miſchen; ſie kehrte früher um und nahm Abſchied von Otto, damit ſie völlig ungeſtört ſich dem Ueberfluſſe des Entzückens und des Danks hin- geben könne. Ihr Weg führte ſie durch ein Birkenwäldchen, bei deſſen lezten Büſchen ſie eine Zigeunerin allein am Raſen ſitzen fand, eine Perſon von anſprechendem und trotz ihres geſezten Alters noch immer von jung- fräulichem Ausſehen. Man grüßt ſich, Agnes geht weiter, und hat kaum fünfzehn Schritte zurückgelegt, als ſie bereuet, die Unbekannte nicht angeredet zu haben, deren ganzes Weſen und freundlich bedeuten- der Blick doch ſogleich den größten Eindruck auf ſie gemacht hatte. Sie beſinnt ſich, ſie lenkt um und eine Unterredung wird angeknüpft. Nach einer Weile, während der man gleichgültige Dinge geſprochen, pflückt das braune Mädchen gleichſam ſpielend einige Gräſer, knüpft ſie in eine regelmäßige Figur zuſam- men, löſ’t ſodann kopfſchüttelnd den einen oder an- dern Knoten wieder auf und ſagt: „Sezt Euch zu mir. — Der Herr, den Ihr da vorhin ausgefolgt,

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/78>, abgerufen am 26.11.2024.