schätzbares Merkzeichen. Mir beginnt ein neues Le- ben! Herauf, du schläfriger Morgen! O warum stürzt die Sonne sich nicht prächtig und entzückt mit Einem Mal über den schattenden Berg, da mich ein Wunder glücklich macht? Du grauer Tag, wie blickst du selt- sam in die glühende Blätterkrone dieses geborstenen Kelchs! Lieber, grauer Tag, wahrsage mir nicht Schlimmes mit dieser gelassenen Miene! und willst du neidisch seyn, so wiss' es nur und ärgre dich -- Sie liebt mich! Mich! Ja, Sie -- mich!
Indessen hatte Larkens das ihm übergebene Briefchen Agnesens geöffnet und gelesen; es war ein einfacher Gruß, wobei sie Theobalden auf's lebhaf- teste dankt für sein leztes Schreiben, welches je- doch, die Wahrheit zu sagen, von ganz anderer Hand, und, wie so manche frühere Sendung, bloß unterschoben war.
"Du bittest mich," sagte Larkens nach einer Pause gerührten Nachdenkens vor sich hin, "du bittest mich, armer Freund, ich soll das Blättchen bei mir vergraben, soll den Knoten zerhauen, soll deine ganze verleidete Sache über Hals und Kopf der Vergessen- heit überliefern, und so Alles mit Einem Male gut machen. Ich will gut machen, aber auf ganz andere Art als du denkst, und Gott sey Dank, daß mir nicht jezt erst einfällt, diese Sorge auf mich zu nehmen. Wie preis' ich den Genius, der mir gleich Anfangs
ſchätzbares Merkzeichen. Mir beginnt ein neues Le- ben! Herauf, du ſchläfriger Morgen! O warum ſtürzt die Sonne ſich nicht prächtig und entzückt mit Einem Mal über den ſchattenden Berg, da mich ein Wunder glücklich macht? Du grauer Tag, wie blickſt du ſelt- ſam in die glühende Blätterkrone dieſes geborſtenen Kelchs! Lieber, grauer Tag, wahrſage mir nicht Schlimmes mit dieſer gelaſſenen Miene! und willſt du neidiſch ſeyn, ſo wiſſ’ es nur und ärgre dich — Sie liebt mich! Mich! Ja, Sie — mich!
Indeſſen hatte Larkens das ihm übergebene Briefchen Agneſens geöffnet und geleſen; es war ein einfacher Gruß, wobei ſie Theobalden auf’s lebhaf- teſte dankt für ſein leztes Schreiben, welches je- doch, die Wahrheit zu ſagen, von ganz anderer Hand, und, wie ſo manche frühere Sendung, bloß unterſchoben war.
„Du bitteſt mich,“ ſagte Larkens nach einer Pauſe gerührten Nachdenkens vor ſich hin, „du bitteſt mich, armer Freund, ich ſoll das Blättchen bei mir vergraben, ſoll den Knoten zerhauen, ſoll deine ganze verleidete Sache über Hals und Kopf der Vergeſſen- heit überliefern, und ſo Alles mit Einem Male gut machen. Ich will gut machen, aber auf ganz andere Art als du denkſt, und Gott ſey Dank, daß mir nicht jezt erſt einfällt, dieſe Sorge auf mich zu nehmen. Wie preiſ’ ich den Genius, der mir gleich Anfangs
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ſchätzbares Merkzeichen. Mir beginnt ein neues Le-
ben! Herauf, du ſchläfriger Morgen! O warum ſtürzt
die Sonne ſich nicht prächtig und entzückt mit Einem
Mal über den ſchattenden Berg, da mich ein Wunder
glücklich macht? Du grauer Tag, wie blickſt du ſelt-
ſam in die glühende Blätterkrone dieſes geborſtenen
Kelchs! Lieber, grauer Tag, wahrſage mir nicht
Schlimmes mit dieſer gelaſſenen Miene! und willſt du
neidiſch ſeyn, ſo wiſſ’ es nur und ärgre dich — Sie
liebt mich! Mich! Ja, Sie — mich!
Indeſſen hatte Larkens das ihm übergebene
Briefchen Agneſens geöffnet und geleſen; es war
ein einfacher Gruß, wobei ſie Theobalden auf’s lebhaf-
teſte dankt für ſein leztes Schreiben, welches je-
doch, die Wahrheit zu ſagen, von ganz anderer Hand, und,
wie ſo manche frühere Sendung, bloß unterſchoben war.
„Du bitteſt mich,“ ſagte Larkens nach einer
Pauſe gerührten Nachdenkens vor ſich hin, „du bitteſt
mich, armer Freund, ich ſoll das Blättchen bei mir
vergraben, ſoll den Knoten zerhauen, ſoll deine ganze
verleidete Sache über Hals und Kopf der Vergeſſen-
heit überliefern, und ſo Alles mit Einem Male gut
machen. Ich will gut machen, aber auf ganz andere
Art als du denkſt, und Gott ſey Dank, daß mir nicht
jezt erſt einfällt, dieſe Sorge auf mich zu nehmen.
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/69>, abgerufen am 25.11.2024.
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