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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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schien, wie sie ihm auf seinen nächtlichen Wanderun-
gen, auf den Straßen der Städte und Dörfer sich
dargeboten haben mochten; charakteristische Bilder aus
den verschiedensten Verhältnissen und Zuständen der
Menschen. Wir übergehen den größten Theil seiner
Vorlesung und führen bloß Eine Stelle an, die auf
Nolten um so tiefern Eindruck machte, je vielsagen-
der der Blick war, womit Larkens ihn darauf auf-
merksam zu machen suchte.


"Nacht vom 7. auf den 8. Januar im Dorfe".
-- -- Ich trete vor ein reinlich gebautes Haus;
ich kenne es wohl; es wohnen glückliche Menschen
darin. In harmloser Stille blühet hier eine Braut,
deren Verlobter ferne lebt. Vergönne mir, du Haus
des Friedens, einen Blick in deine Gemächer. Mein
Auge ist geheiligt wie das eines Priesters; hundert
Jahre schon belauscht es die Nächte der Könige dieses
Landes und die Schlummerstätten der Armen im Volk,
und meine Gebete erzählen dem Himmel, was ich ge-
sehen. Sieh da! was zeigt mir mein magischer Spie-
gel? Es ist die Kammer des Mädchens. Wie ruhig
athmet die Schlafende dort! Ihr liebliches Haupt
ist hinabgesunken nach der Seite des Lagers. Der
Mond schaut durch das kleine Fenster; mit Einem
Strahle berührt er eben das unschuldige Kinn der
Schläferin. Eine Hyacinthe neigt ihre blauen Glocken
gegen das Kissen her und mischt ihren Duft in die

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ſchien, wie ſie ihm auf ſeinen nächtlichen Wanderun-
gen, auf den Straßen der Städte und Dörfer ſich
dargeboten haben mochten; charakteriſtiſche Bilder aus
den verſchiedenſten Verhältniſſen und Zuſtänden der
Menſchen. Wir übergehen den größten Theil ſeiner
Vorleſung und führen bloß Eine Stelle an, die auf
Nolten um ſo tiefern Eindruck machte, je vielſagen-
der der Blick war, womit Larkens ihn darauf auf-
merkſam zu machen ſuchte.


„Nacht vom 7. auf den 8. Januar im Dorfe“.
— — Ich trete vor ein reinlich gebautes Haus;
ich kenne es wohl; es wohnen glückliche Menſchen
darin. In harmloſer Stille blühet hier eine Braut,
deren Verlobter ferne lebt. Vergönne mir, du Haus
des Friedens, einen Blick in deine Gemächer. Mein
Auge iſt geheiligt wie das eines Prieſters; hundert
Jahre ſchon belauſcht es die Nächte der Könige dieſes
Landes und die Schlummerſtätten der Armen im Volk,
und meine Gebete erzählen dem Himmel, was ich ge-
ſehen. Sieh da! was zeigt mir mein magiſcher Spie-
gel? Es iſt die Kammer des Mädchens. Wie ruhig
athmet die Schlafende dort! Ihr liebliches Haupt
iſt hinabgeſunken nach der Seite des Lagers. Der
Mond ſchaut durch das kleine Fenſter; mit Einem
Strahle berührt er eben das unſchuldige Kinn der
Schläferin. Eine Hyacinthe neigt ihre blauen Glocken
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[49/0057] ſchien, wie ſie ihm auf ſeinen nächtlichen Wanderun- gen, auf den Straßen der Städte und Dörfer ſich dargeboten haben mochten; charakteriſtiſche Bilder aus den verſchiedenſten Verhältniſſen und Zuſtänden der Menſchen. Wir übergehen den größten Theil ſeiner Vorleſung und führen bloß Eine Stelle an, die auf Nolten um ſo tiefern Eindruck machte, je vielſagen- der der Blick war, womit Larkens ihn darauf auf- merkſam zu machen ſuchte. „Nacht vom 7. auf den 8. Januar im Dorfe“. — — Ich trete vor ein reinlich gebautes Haus; ich kenne es wohl; es wohnen glückliche Menſchen darin. In harmloſer Stille blühet hier eine Braut, deren Verlobter ferne lebt. Vergönne mir, du Haus des Friedens, einen Blick in deine Gemächer. Mein Auge iſt geheiligt wie das eines Prieſters; hundert Jahre ſchon belauſcht es die Nächte der Könige dieſes Landes und die Schlummerſtätten der Armen im Volk, und meine Gebete erzählen dem Himmel, was ich ge- ſehen. Sieh da! was zeigt mir mein magiſcher Spie- gel? Es iſt die Kammer des Mädchens. Wie ruhig athmet die Schlafende dort! Ihr liebliches Haupt iſt hinabgeſunken nach der Seite des Lagers. Der Mond ſchaut durch das kleine Fenſter; mit Einem Strahle berührt er eben das unſchuldige Kinn der Schläferin. Eine Hyacinthe neigt ihre blauen Glocken gegen das Kiſſen her und miſcht ihren Duft in die 4

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/57>, abgerufen am 24.11.2024.