Faden der Zeit. Kommt hieher und fühlet, wie es schon frisch herüberduftet aus der nahen Zukunft!"
Jezt schlug das letzte Viertel vor zwölf Uhr. Die Zinkenisten schlichen mit ihren Instrumenten auf die Galerie, und schon ließen sich von der entfernten Paulskirche herüber einige sanfte, fast klagende Töne vernehmen, die von unserer Seite anfänglich in schwa- chen, dann in immer stärkeren Akkorden erwiedert wurden; jene bezeichneten das scheidende, diese das erwachende Jahr, und beide begegneten sich in einer Art von Wechselgesang, der am lebhaftesten wurde, als endlich die Glocken von verschiedenen Seiten her die Stunde ausschlugen; die dießseitige Partie ging in freudige Melodieen über, während es von drüben immer schmerzlicher und wehmüthiger klang, bis mit dem fernsten Glöckchen, das wie silbern durch die reine Luft erzitterte, die traurigen Klarinetten den lezten sterbenden Hauch versandten. Nun erfolgte eine Pause, und jezt erst trat das vorhandene Jahr im siegreichsten Triumphe hervor.
Nachdem Alles still geworden und die Gesellschaft wieder traulich um den Tisch versammelt war, ergriff man das freundliche Anerbieten des idealischen Wäch- ters, etwas aus seinem Tag- oder Nachtbuch vom vorigen Jahre mitzutheilen, mit allgemeinem Beifalle. Er zog ein mit sonderbaren Charakteren geschriebenes Heft hervor, welches unter regelmäßigen Daten, ab- gerissene Bemerkungen und Gedanken zu enthalten
Faden der Zeit. Kommt hieher und fühlet, wie es ſchon friſch herüberduftet aus der nahen Zukunft!“
Jezt ſchlug das letzte Viertel vor zwölf Uhr. Die Zinkeniſten ſchlichen mit ihren Inſtrumenten auf die Galerie, und ſchon ließen ſich von der entfernten Paulskirche herüber einige ſanfte, faſt klagende Töne vernehmen, die von unſerer Seite anfänglich in ſchwa- chen, dann in immer ſtärkeren Akkorden erwiedert wurden; jene bezeichneten das ſcheidende, dieſe das erwachende Jahr, und beide begegneten ſich in einer Art von Wechſelgeſang, der am lebhafteſten wurde, als endlich die Glocken von verſchiedenen Seiten her die Stunde ausſchlugen; die dießſeitige Partie ging in freudige Melodieen über, während es von drüben immer ſchmerzlicher und wehmüthiger klang, bis mit dem fernſten Glöckchen, das wie ſilbern durch die reine Luft erzitterte, die traurigen Klarinetten den lezten ſterbenden Hauch verſandten. Nun erfolgte eine Pauſe, und jezt erſt trat das vorhandene Jahr im ſiegreichſten Triumphe hervor.
Nachdem Alles ſtill geworden und die Geſellſchaft wieder traulich um den Tiſch verſammelt war, ergriff man das freundliche Anerbieten des idealiſchen Wäch- ters, etwas aus ſeinem Tag- oder Nachtbuch vom vorigen Jahre mitzutheilen, mit allgemeinem Beifalle. Er zog ein mit ſonderbaren Charakteren geſchriebenes Heft hervor, welches unter regelmäßigen Daten, ab- geriſſene Bemerkungen und Gedanken zu enthalten
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Faden der Zeit. Kommt hieher und fühlet, wie es
ſchon friſch herüberduftet aus der nahen Zukunft!“
Jezt ſchlug das letzte Viertel vor zwölf Uhr.
Die Zinkeniſten ſchlichen mit ihren Inſtrumenten auf
die Galerie, und ſchon ließen ſich von der entfernten
Paulskirche herüber einige ſanfte, faſt klagende Töne
vernehmen, die von unſerer Seite anfänglich in ſchwa-
chen, dann in immer ſtärkeren Akkorden erwiedert
wurden; jene bezeichneten das ſcheidende, dieſe das
erwachende Jahr, und beide begegneten ſich in einer
Art von Wechſelgeſang, der am lebhafteſten wurde,
als endlich die Glocken von verſchiedenen Seiten her
die Stunde ausſchlugen; die dießſeitige Partie ging
in freudige Melodieen über, während es von drüben
immer ſchmerzlicher und wehmüthiger klang, bis mit
dem fernſten Glöckchen, das wie ſilbern durch die
reine Luft erzitterte, die traurigen Klarinetten den
lezten ſterbenden Hauch verſandten. Nun erfolgte
eine Pauſe, und jezt erſt trat das vorhandene Jahr
im ſiegreichſten Triumphe hervor.
Nachdem Alles ſtill geworden und die Geſellſchaft
wieder traulich um den Tiſch verſammelt war, ergriff
man das freundliche Anerbieten des idealiſchen Wäch-
ters, etwas aus ſeinem Tag- oder Nachtbuch vom
vorigen Jahre mitzutheilen, mit allgemeinem Beifalle.
Er zog ein mit ſonderbaren Charakteren geſchriebenes
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/56>, abgerufen am 24.11.2024.
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