Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.bewegter Stimme: "Sagt mir doch, ich bitte Euch sehr, "Nein!" war die Antwort. "Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele gelesen?" "Ich verstehe Euch nicht, lieber Herr!" "Seht nur," fuhr jener fort "als ich Euch ansah, Er schwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann bewegter Stimme: „Sagt mir doch, ich bitte Euch ſehr, „Nein!“ war die Antwort. „Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele geleſen?“ „Ich verſtehe Euch nicht, lieber Herr!“ „Seht nur,“ fuhr jener fort „als ich Euch anſah, Er ſchwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0295" n="287"/> bewegter Stimme: „Sagt mir doch, ich bitte Euch ſehr,<lb/> wißt Ihr, warum das mit mir geſchehen iſt, was Ihr<lb/> vorhin mit angeſehen habt?“</p><lb/> <p>„Nein!“ war die Antwort.</p><lb/> <p>„Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele geleſen?“</p><lb/> <p>„Ich verſtehe Euch nicht, lieber Herr!“</p><lb/> <p>„Seht nur,“ fuhr jener fort „als ich Euch anſah,<lb/> da war es, als verſänk’ ich tief in mich ſelbſt, wie in<lb/> einen Abgrund, als ſchwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe<lb/> ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch<lb/> in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor<lb/> mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die<lb/> Zeiträume meines Lebens und ſah mich als Knaben<lb/> und ſah mich als Kind neben Eurer Geſtalt, ſo wie<lb/> ſie jezt wieder vor mir aufgerichtet iſt; ja ich kam bis<lb/> an die Dunkelheit, wo meine Wiege ſtand, und ſah Euch<lb/> den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging<lb/> das Bewußtſeyn mir, ich habe vielleicht lange geſchla-<lb/> fen, aber wie ſich meine Augen aufhoben von ſelber,<lb/> ſchaut’ ich in die Eurigen, als in einen unendlichen<lb/> Brunnen, darin das Räthſel meines Lebens lag.“</p><lb/> <p>Er ſchwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann<lb/> ſagte er lebhaft: „Laßt mich Eure Rechte Einmal<lb/> faſſen!“ Die Fremde gab es zu, und eine ſchönge-<lb/> bildete braune Hand wog er mit ſeligem Nachdenken<lb/> in der ſeinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur<lb/> wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf<lb/> die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen dieſe<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [287/0295]
bewegter Stimme: „Sagt mir doch, ich bitte Euch ſehr,
wißt Ihr, warum das mit mir geſchehen iſt, was Ihr
vorhin mit angeſehen habt?“
„Nein!“ war die Antwort.
„Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele geleſen?“
„Ich verſtehe Euch nicht, lieber Herr!“
„Seht nur,“ fuhr jener fort „als ich Euch anſah,
da war es, als verſänk’ ich tief in mich ſelbſt, wie in
einen Abgrund, als ſchwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe
ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch
in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor
mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die
Zeiträume meines Lebens und ſah mich als Knaben
und ſah mich als Kind neben Eurer Geſtalt, ſo wie
ſie jezt wieder vor mir aufgerichtet iſt; ja ich kam bis
an die Dunkelheit, wo meine Wiege ſtand, und ſah Euch
den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging
das Bewußtſeyn mir, ich habe vielleicht lange geſchla-
fen, aber wie ſich meine Augen aufhoben von ſelber,
ſchaut’ ich in die Eurigen, als in einen unendlichen
Brunnen, darin das Räthſel meines Lebens lag.“
Er ſchwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann
ſagte er lebhaft: „Laßt mich Eure Rechte Einmal
faſſen!“ Die Fremde gab es zu, und eine ſchönge-
bildete braune Hand wog er mit ſeligem Nachdenken
in der ſeinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur
wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf
die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen dieſe
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