bewegter Stimme: "Sagt mir doch, ich bitte Euch sehr, wißt Ihr, warum das mit mir geschehen ist, was Ihr vorhin mit angesehen habt?"
"Nein!" war die Antwort.
"Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele gelesen?"
"Ich verstehe Euch nicht, lieber Herr!"
"Seht nur," fuhr jener fort "als ich Euch ansah, da war es, als versänk' ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert Träumen gesehen habe, so, wie Ihr da vor mir stehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die Zeiträume meines Lebens und sah mich als Knaben und sah mich als Kind neben Eurer Gestalt, so wie sie jezt wieder vor mir aufgerichtet ist; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo meine Wiege stand, und sah Euch den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging das Bewußtseyn mir, ich habe vielleicht lange geschla- fen, aber wie sich meine Augen aufhoben von selber, schaut' ich in die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Räthsel meines Lebens lag."
Er schwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann sagte er lebhaft: "Laßt mich Eure Rechte Einmal fassen!" Die Fremde gab es zu, und eine schönge- bildete braune Hand wog er mit seligem Nachdenken in der seinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen diese
bewegter Stimme: „Sagt mir doch, ich bitte Euch ſehr, wißt Ihr, warum das mit mir geſchehen iſt, was Ihr vorhin mit angeſehen habt?“
„Nein!“ war die Antwort.
„Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele geleſen?“
„Ich verſtehe Euch nicht, lieber Herr!“
„Seht nur,“ fuhr jener fort „als ich Euch anſah, da war es, als verſänk’ ich tief in mich ſelbſt, wie in einen Abgrund, als ſchwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die Zeiträume meines Lebens und ſah mich als Knaben und ſah mich als Kind neben Eurer Geſtalt, ſo wie ſie jezt wieder vor mir aufgerichtet iſt; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo meine Wiege ſtand, und ſah Euch den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging das Bewußtſeyn mir, ich habe vielleicht lange geſchla- fen, aber wie ſich meine Augen aufhoben von ſelber, ſchaut’ ich in die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Räthſel meines Lebens lag.“
Er ſchwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann ſagte er lebhaft: „Laßt mich Eure Rechte Einmal faſſen!“ Die Fremde gab es zu, und eine ſchönge- bildete braune Hand wog er mit ſeligem Nachdenken in der ſeinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen dieſe
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bewegter Stimme: „Sagt mir doch, ich bitte Euch ſehr,
wißt Ihr, warum das mit mir geſchehen iſt, was Ihr
vorhin mit angeſehen habt?“
„Nein!“ war die Antwort.
„Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele geleſen?“
„Ich verſtehe Euch nicht, lieber Herr!“
„Seht nur,“ fuhr jener fort „als ich Euch anſah,
da war es, als verſänk’ ich tief in mich ſelbſt, wie in
einen Abgrund, als ſchwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe
ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch
in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor
mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die
Zeiträume meines Lebens und ſah mich als Knaben
und ſah mich als Kind neben Eurer Geſtalt, ſo wie
ſie jezt wieder vor mir aufgerichtet iſt; ja ich kam bis
an die Dunkelheit, wo meine Wiege ſtand, und ſah Euch
den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging
das Bewußtſeyn mir, ich habe vielleicht lange geſchla-
fen, aber wie ſich meine Augen aufhoben von ſelber,
ſchaut’ ich in die Eurigen, als in einen unendlichen
Brunnen, darin das Räthſel meines Lebens lag.“
Er ſchwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann
ſagte er lebhaft: „Laßt mich Eure Rechte Einmal
faſſen!“ Die Fremde gab es zu, und eine ſchönge-
bildete braune Hand wog er mit ſeligem Nachdenken
in der ſeinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur
wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/295>, abgerufen am 23.07.2024.
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