einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die Schwester wieder gefunden zu haben und sagte: "Höre nur! mir ist etwas Sonderbares begegnet --"
"Mir auch; hast du den wunderlichen Gesang gehört?"
"Nein, welchen? -- aber bei dem Eingang in die Kasematte, wo der verschüttete Brunnen ist, sizt eine Gestalt in brauner Frauenkleidung und mit ver- hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich zu suchen."
Die Schwester erzählte ihrerseits auch, was vor- gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man müsse sich die Person genauer besehen, man müsse sie anreden, sey es auch wer es wolle. "Ein ähnliches Gelüsten, wie das unsrige, hat diesen Besuch wohl schwerlich veranlaßt," meinte Adelheid; "das heutige Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann gar unlustig zu solchen Partien; ich vermuthe eine Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu trösten vielleicht eben wir bestimmt sind." -- "Und laß es ein Gespenst seyn!" rief Theobald, "wir gehen darauf zu!"
So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin. Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber keineswegs unangenehmes Aussehen auf den ersten Blick eine Zigeunerin zu verrathen schien. Bildung des Gesichts, Miene und Anstand hatte ein auffallen- des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war
einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die Schweſter wieder gefunden zu haben und ſagte: „Höre nur! mir iſt etwas Sonderbares begegnet —“
„Mir auch; haſt du den wunderlichen Geſang gehört?“
„Nein, welchen? — aber bei dem Eingang in die Kaſematte, wo der verſchüttete Brunnen iſt, ſizt eine Geſtalt in brauner Frauenkleidung und mit ver- hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich zu ſuchen.“
Die Schweſter erzählte ihrerſeits auch, was vor- gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man müſſe ſich die Perſon genauer beſehen, man müſſe ſie anreden, ſey es auch wer es wolle. „Ein aͤhnliches Gelüſten, wie das unſrige, hat dieſen Beſuch wohl ſchwerlich veranlaßt,“ meinte Adelheid; „das heutige Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann gar unluſtig zu ſolchen Partien; ich vermuthe eine Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu tröſten vielleicht eben wir beſtimmt ſind.“ — „Und laß es ein Geſpenſt ſeyn!“ rief Theobald, „wir gehen darauf zu!“
So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin. Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber keineswegs unangenehmes Ausſehen auf den erſten Blick eine Zigeunerin zu verrathen ſchien. Bildung des Geſichts, Miene und Anſtand hatte ein auffallen- des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0292"n="284"/>
einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die<lb/>
Schweſter wieder gefunden zu haben und ſagte: „Höre<lb/>
nur! mir iſt etwas Sonderbares begegnet —“</p><lb/><p>„Mir auch; haſt du den wunderlichen Geſang<lb/>
gehört?“</p><lb/><p>„Nein, welchen? — aber bei dem Eingang in<lb/>
die Kaſematte, wo der verſchüttete Brunnen iſt, ſizt<lb/>
eine Geſtalt in brauner Frauenkleidung und mit ver-<lb/>
hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt,<lb/>
ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich<lb/>
zu ſuchen.“</p><lb/><p>Die Schweſter erzählte ihrerſeits auch, was vor-<lb/>
gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man<lb/>
müſſe ſich die Perſon genauer beſehen, man müſſe ſie<lb/>
anreden, ſey es auch wer es wolle. „Ein aͤhnliches<lb/>
Gelüſten, wie das unſrige, hat dieſen Beſuch wohl<lb/>ſchwerlich veranlaßt,“ meinte <hirendition="#g">Adelheid</hi>; „das heutige<lb/>
Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann<lb/>
gar unluſtig zu ſolchen Partien; ich vermuthe eine<lb/>
Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu tröſten<lb/>
vielleicht eben wir beſtimmt ſind.“—„Und laß es ein<lb/>
Geſpenſt ſeyn!“ rief <hirendition="#g">Theobald</hi>, „wir gehen darauf zu!“</p><lb/><p>So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin.<lb/>
Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber<lb/>
keineswegs unangenehmes Ausſehen auf den erſten<lb/>
Blick eine Zigeunerin zu verrathen ſchien. Bildung<lb/>
des Geſichts, Miene und Anſtand hatte ein auffallen-<lb/>
des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[284/0292]
einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die
Schweſter wieder gefunden zu haben und ſagte: „Höre
nur! mir iſt etwas Sonderbares begegnet —“
„Mir auch; haſt du den wunderlichen Geſang
gehört?“
„Nein, welchen? — aber bei dem Eingang in
die Kaſematte, wo der verſchüttete Brunnen iſt, ſizt
eine Geſtalt in brauner Frauenkleidung und mit ver-
hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt,
ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich
zu ſuchen.“
Die Schweſter erzählte ihrerſeits auch, was vor-
gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man
müſſe ſich die Perſon genauer beſehen, man müſſe ſie
anreden, ſey es auch wer es wolle. „Ein aͤhnliches
Gelüſten, wie das unſrige, hat dieſen Beſuch wohl
ſchwerlich veranlaßt,“ meinte Adelheid; „das heutige
Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann
gar unluſtig zu ſolchen Partien; ich vermuthe eine
Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu tröſten
vielleicht eben wir beſtimmt ſind.“ — „Und laß es ein
Geſpenſt ſeyn!“ rief Theobald, „wir gehen darauf zu!“
So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin.
Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber
keineswegs unangenehmes Ausſehen auf den erſten
Blick eine Zigeunerin zu verrathen ſchien. Bildung
des Geſichts, Miene und Anſtand hatte ein auffallen-
des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/292>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.