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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die
Schwester wieder gefunden zu haben und sagte: "Höre
nur! mir ist etwas Sonderbares begegnet --"

"Mir auch; hast du den wunderlichen Gesang
gehört?"

"Nein, welchen? -- aber bei dem Eingang in
die Kasematte, wo der verschüttete Brunnen ist, sizt
eine Gestalt in brauner Frauenkleidung und mit ver-
hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt,
ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich
zu suchen."

Die Schwester erzählte ihrerseits auch, was vor-
gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man
müsse sich die Person genauer besehen, man müsse sie
anreden, sey es auch wer es wolle. "Ein ähnliches
Gelüsten, wie das unsrige, hat diesen Besuch wohl
schwerlich veranlaßt," meinte Adelheid; "das heutige
Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann
gar unlustig zu solchen Partien; ich vermuthe eine
Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu trösten
vielleicht eben wir bestimmt sind." -- "Und laß es ein
Gespenst seyn!" rief Theobald, "wir gehen darauf zu!"

So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin.
Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber
keineswegs unangenehmes Aussehen auf den ersten
Blick eine Zigeunerin zu verrathen schien. Bildung
des Gesichts, Miene und Anstand hatte ein auffallen-
des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war

einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die
Schweſter wieder gefunden zu haben und ſagte: „Höre
nur! mir iſt etwas Sonderbares begegnet —“

„Mir auch; haſt du den wunderlichen Geſang
gehört?“

„Nein, welchen? — aber bei dem Eingang in
die Kaſematte, wo der verſchüttete Brunnen iſt, ſizt
eine Geſtalt in brauner Frauenkleidung und mit ver-
hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt,
ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich
zu ſuchen.“

Die Schweſter erzählte ihrerſeits auch, was vor-
gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man
müſſe ſich die Perſon genauer beſehen, man müſſe ſie
anreden, ſey es auch wer es wolle. „Ein aͤhnliches
Gelüſten, wie das unſrige, hat dieſen Beſuch wohl
ſchwerlich veranlaßt,“ meinte Adelheid; „das heutige
Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann
gar unluſtig zu ſolchen Partien; ich vermuthe eine
Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu tröſten
vielleicht eben wir beſtimmt ſind.“ — „Und laß es ein
Geſpenſt ſeyn!“ rief Theobald, „wir gehen darauf zu!“

So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin.
Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber
keineswegs unangenehmes Ausſehen auf den erſten
Blick eine Zigeunerin zu verrathen ſchien. Bildung
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[284/0292] einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die Schweſter wieder gefunden zu haben und ſagte: „Höre nur! mir iſt etwas Sonderbares begegnet —“ „Mir auch; haſt du den wunderlichen Geſang gehört?“ „Nein, welchen? — aber bei dem Eingang in die Kaſematte, wo der verſchüttete Brunnen iſt, ſizt eine Geſtalt in brauner Frauenkleidung und mit ver- hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich zu ſuchen.“ Die Schweſter erzählte ihrerſeits auch, was vor- gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man müſſe ſich die Perſon genauer beſehen, man müſſe ſie anreden, ſey es auch wer es wolle. „Ein aͤhnliches Gelüſten, wie das unſrige, hat dieſen Beſuch wohl ſchwerlich veranlaßt,“ meinte Adelheid; „das heutige Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann gar unluſtig zu ſolchen Partien; ich vermuthe eine Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu tröſten vielleicht eben wir beſtimmt ſind.“ — „Und laß es ein Geſpenſt ſeyn!“ rief Theobald, „wir gehen darauf zu!“ So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin. Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber keineswegs unangenehmes Ausſehen auf den erſten Blick eine Zigeunerin zu verrathen ſchien. Bildung des Geſichts, Miene und Anſtand hatte ein auffallen- des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/292>, abgerufen am 25.11.2024.