Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbst bereits dergestalt kennen gelernt und bis auf einen gewissen Grad sogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit un- abweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge. Doch, lassen Sie mich deutlich reden. Ich heiße Theobald Nolten und studire in hiesiger Stadt ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich gestern in der aufgestellten Galerie unter andern ein Ge- mälde, das Opfer der Polyxena vorstellend, das mir auf den ersten Blick als eine innig vertraute Erschei- nung entgegentrat. Es war, als stünde durch Zau- berwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert vor meinem schwindelnden Auge. Diese schmerzvolle Königstochter schien mich so schwesterlich bekannt zu grüßen, ihre ganze Umgebung däuchte mir sogar nicht fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein Reiz gegossen, der nicht aus meinem Innern, der von einer höhern Macht, von den Olympischen selbst her- abgestrahlt schien; ich zitterte, bei Gott! ich --"
"Was?" unterbrach ihn Tillsen, "Sie wären -- ja Sie sind der wunderbare Künstler, dem ich so Vieles abzubitten --"
"Nicht doch," entgegnete jener feurig, "nein! der Ihnen Unendliches zu danken hat. O edelster Mann! Sie haben mich mir selbst enthüllt, indem Sie mich hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie weckten mich mit Freundeshand aus einem Zustande der dunkeln Ohnmacht, rissen mich auf die Sonnen-
Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbſt bereits dergeſtalt kennen gelernt und bis auf einen gewiſſen Grad ſogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit un- abweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge. Doch, laſſen Sie mich deutlich reden. Ich heiße Theobald Nolten und ſtudire in hieſiger Stadt ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich geſtern in der aufgeſtellten Galerie unter andern ein Ge- mälde, das Opfer der Polyxena vorſtellend, das mir auf den erſten Blick als eine innig vertraute Erſchei- nung entgegentrat. Es war, als ſtünde durch Zau- berwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert vor meinem ſchwindelnden Auge. Dieſe ſchmerzvolle Königstochter ſchien mich ſo ſchweſterlich bekannt zu grüßen, ihre ganze Umgebung däuchte mir ſogar nicht fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein Reiz gegoſſen, der nicht aus meinem Innern, der von einer höhern Macht, von den Olympiſchen ſelbſt her- abgeſtrahlt ſchien; ich zitterte, bei Gott! ich —“
„Was?“ unterbrach ihn Tillſen, „Sie wären — ja Sie ſind der wunderbare Künſtler, dem ich ſo Vieles abzubitten —“
„Nicht doch,“ entgegnete jener feurig, „nein! der Ihnen Unendliches zu danken hat. O edelſter Mann! Sie haben mich mir ſelbſt enthüllt, indem Sie mich hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie weckten mich mit Freundeshand aus einem Zuſtande der dunkeln Ohnmacht, riſſen mich auf die Sonnen-
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Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbſt bereits
dergeſtalt kennen gelernt und bis auf einen gewiſſen
Grad ſogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit un-
abweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge.
Doch, laſſen Sie mich deutlich reden. Ich heiße
Theobald Nolten und ſtudire in hieſiger Stadt
ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich geſtern
in der aufgeſtellten Galerie unter andern ein Ge-
mälde, das Opfer der Polyxena vorſtellend, das mir
auf den erſten Blick als eine innig vertraute Erſchei-
nung entgegentrat. Es war, als ſtünde durch Zau-
berwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert
vor meinem ſchwindelnden Auge. Dieſe ſchmerzvolle
Königstochter ſchien mich ſo ſchweſterlich bekannt zu
grüßen, ihre ganze Umgebung däuchte mir ſogar nicht
fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein
Reiz gegoſſen, der nicht aus meinem Innern, der von
einer höhern Macht, von den Olympiſchen ſelbſt her-
abgeſtrahlt ſchien; ich zitterte, bei Gott! ich —“
„Was?“ unterbrach ihn Tillſen, „Sie wären —
ja Sie ſind der wunderbare Künſtler, dem ich ſo
Vieles abzubitten —“
„Nicht doch,“ entgegnete jener feurig, „nein! der
Ihnen Unendliches zu danken hat. O edelſter Mann!
Sie haben mich mir ſelbſt enthüllt, indem Sie mich
hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie
weckten mich mit Freundeshand aus einem Zuſtande
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/29>, abgerufen am 22.07.2024.
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