chung zwischen früheren und späteren Familiengliedern in ihren Charakteren, Erlebnissen, Physiognomieen hie und da ergeben (so wie man zuweilen unvermuthet eine und dieselbe Melodie, nur mit veränderter Tonart, in demselben Stücke wieder klingen hört), sodann das seltsame Verhängniß, daß oft ein Nachkomme die un- vollendete Rolle eines längst modernden Vorfahren aus- spielen muß -- dieß Alles springt uns offener, überraschen- der als bei hundert andern Individuen hier am Bei- spiele unseres Freundes in das Auge. Dennoch wer- den Sie bei diesen Verhältnissen nichts Unbegreifli- ches, Grobfatalistisches, vielmehr nur die natürlichste Entfaltung des Nothwendigen entdecken. Die Spitze des Ganzen besteht aber in der Art und Weise, wie unser Freund als Knabe zur innigsten Vermählung mit der Kunst geleitet worden, deren ursprünglicher Cha- rakter sich noch heute in einem großen Theil seiner Ge- mälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen selbst urthei- len. Aber ach! was werden Sie bei dieser Lektüre fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, dessen ahnungsvolle Knabengestalt Ihnen in den Blättern be- gegnet, nunmehr als Mann von der sinnlosen Faust eines fremdartigen Geschickes aus seiner eigenen Sphäre herausgestoßen, und noch ehe er die Hälfte seiner Rech- nung abgeschlossen, hier in diesen Mauern eilig ver- welken und vergehen soll! Denn, o mein Freund! ich fürchte Alles, und dieser Kummer wird mich aufreiben, wird mich noch vor Ihm tödten -- und möchte er nur!
chung zwiſchen früheren und ſpäteren Familiengliedern in ihren Charakteren, Erlebniſſen, Phyſiognomieen hie und da ergeben (ſo wie man zuweilen unvermuthet eine und dieſelbe Melodie, nur mit veränderter Tonart, in demſelben Stücke wieder klingen hört), ſodann das ſeltſame Verhängniß, daß oft ein Nachkomme die un- vollendete Rolle eines längſt modernden Vorfahren aus- ſpielen muß — dieß Alles ſpringt uns offener, überraſchen- der als bei hundert andern Individuen hier am Bei- ſpiele unſeres Freundes in das Auge. Dennoch wer- den Sie bei dieſen Verhältniſſen nichts Unbegreifli- ches, Grobfataliſtiſches, vielmehr nur die natürlichſte Entfaltung des Nothwendigen entdecken. Die Spitze des Ganzen beſteht aber in der Art und Weiſe, wie unſer Freund als Knabe zur innigſten Vermählung mit der Kunſt geleitet worden, deren urſprünglicher Cha- rakter ſich noch heute in einem großen Theil ſeiner Ge- mälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen ſelbſt urthei- len. Aber ach! was werden Sie bei dieſer Lektüre fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, deſſen ahnungsvolle Knabengeſtalt Ihnen in den Blättern be- gegnet, nunmehr als Mann von der ſinnloſen Fauſt eines fremdartigen Geſchickes aus ſeiner eigenen Sphäre herausgeſtoßen, und noch ehe er die Hälfte ſeiner Rech- nung abgeſchloſſen, hier in dieſen Mauern eilig ver- welken und vergehen ſoll! Denn, o mein Freund! ich fürchte Alles, und dieſer Kummer wird mich aufreiben, wird mich noch vor Ihm tödten — und möchte er nur!
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chung zwiſchen früheren und ſpäteren Familiengliedern
in ihren Charakteren, Erlebniſſen, Phyſiognomieen hie
und da ergeben (ſo wie man zuweilen unvermuthet
eine und dieſelbe Melodie, nur mit veränderter Tonart,
in demſelben Stücke wieder klingen hört), ſodann das
ſeltſame Verhängniß, daß oft ein Nachkomme die un-
vollendete Rolle eines längſt modernden Vorfahren aus-
ſpielen muß — dieß Alles ſpringt uns offener, überraſchen-
der als bei hundert andern Individuen hier am Bei-
ſpiele unſeres Freundes in das Auge. Dennoch wer-
den Sie bei dieſen Verhältniſſen nichts Unbegreifli-
ches, Grobfataliſtiſches, vielmehr nur die natürlichſte
Entfaltung des Nothwendigen entdecken. Die Spitze
des Ganzen beſteht aber in der Art und Weiſe, wie
unſer Freund als Knabe zur innigſten Vermählung mit
der Kunſt geleitet worden, deren urſprünglicher Cha-
rakter ſich noch heute in einem großen Theil ſeiner Ge-
mälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen ſelbſt urthei-
len. Aber ach! was werden Sie bei dieſer Lektüre
fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, deſſen
ahnungsvolle Knabengeſtalt Ihnen in den Blättern be-
gegnet, nunmehr als Mann von der ſinnloſen Fauſt
eines fremdartigen Geſchickes aus ſeiner eigenen Sphäre
herausgeſtoßen, und noch ehe er die Hälfte ſeiner Rech-
nung abgeſchloſſen, hier in dieſen Mauern eilig ver-
welken und vergehen ſoll! Denn, o mein Freund! ich
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/282>, abgerufen am 22.11.2024.
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