verstört, machte den Bruder einen Augenblick stutzig, aber er hatte fast keine Augen vor lauter Erwartung, wie es im Garten stehe.
Die streng frische Luft that Constanzen wohl. In gereizten Stimmungen, wie die ihrige jezt war, hat der Mensch auf einige Sekunden vielleicht die höchste Empfänglichkeit für die Natur, in welcher Ge- stalt sie ihm auch entgegentreten mag; er möchte mit Einem Sprung sich ganz nur ihrer Freundschaft, ihres göttlich stillen Lebens bemächtigen, um auf Ein- mal eine Last von alten Zuständen abzuwerfen und zu vergessen. Aber dieses schnell aufflackernde Gefühl ist nur der Sonnenblick, dem alsbald wieder die vorige Wolkentrübe folgt. Constanze erwehrte sich so gut wie möglich. Doch als der Graf zu seiner größten Freude die Gewächse meist unverlezt fand, und bei jedem neuen Stocke bemüht war, die Schwester von seinem Glück zu überzeugen, da konnte sie den wehmü- thigen Gedanken nicht bei sich unterdrücken: wie war mir zu Muthe in der Stunde, als diesen Pflanzen, diesen edlen Stämmchen der Frost das Verderben drohte? Sie grünen noch und blühen, wie auch ich noch aufrecht stehe, mir selber zum Wunder; aber vielleicht der in- nerste Lebenskeim dieser zarten Staude ist doch an- gegriffen, es wird sich zeigen, ob sie uns nicht mit dem bloßen Scheine von Gesundheit täuscht, ob nicht heute Abend schon diese Knospe erstorben dahängt, und -- --
verſtört, machte den Bruder einen Augenblick ſtutzig, aber er hatte faſt keine Augen vor lauter Erwartung, wie es im Garten ſtehe.
Die ſtreng friſche Luft that Conſtanzen wohl. In gereizten Stimmungen, wie die ihrige jezt war, hat der Menſch auf einige Sekunden vielleicht die höchſte Empfänglichkeit für die Natur, in welcher Ge- ſtalt ſie ihm auch entgegentreten mag; er möchte mit Einem Sprung ſich ganz nur ihrer Freundſchaft, ihres göttlich ſtillen Lebens bemächtigen, um auf Ein- mal eine Laſt von alten Zuſtänden abzuwerfen und zu vergeſſen. Aber dieſes ſchnell aufflackernde Gefühl iſt nur der Sonnenblick, dem alsbald wieder die vorige Wolkentrübe folgt. Conſtanze erwehrte ſich ſo gut wie möglich. Doch als der Graf zu ſeiner größten Freude die Gewächſe meiſt unverlezt fand, und bei jedem neuen Stocke bemüht war, die Schweſter von ſeinem Glück zu überzeugen, da konnte ſie den wehmü- thigen Gedanken nicht bei ſich unterdrücken: wie war mir zu Muthe in der Stunde, als dieſen Pflanzen, dieſen edlen Stämmchen der Froſt das Verderben drohte? Sie grünen noch und blühen, wie auch ich noch aufrecht ſtehe, mir ſelber zum Wunder; aber vielleicht der in- nerſte Lebenskeim dieſer zarten Staude iſt doch an- gegriffen, es wird ſich zeigen, ob ſie uns nicht mit dem bloßen Scheine von Geſundheit täuſcht, ob nicht heute Abend ſchon dieſe Knoſpe erſtorben dahängt, und — —
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verſtört, machte den Bruder einen Augenblick ſtutzig,
aber er hatte faſt keine Augen vor lauter Erwartung,
wie es im Garten ſtehe.
Die ſtreng friſche Luft that Conſtanzen wohl.
In gereizten Stimmungen, wie die ihrige jezt war,
hat der Menſch auf einige Sekunden vielleicht die
höchſte Empfänglichkeit für die Natur, in welcher Ge-
ſtalt ſie ihm auch entgegentreten mag; er möchte mit
Einem Sprung ſich ganz nur ihrer Freundſchaft,
ihres göttlich ſtillen Lebens bemächtigen, um auf Ein-
mal eine Laſt von alten Zuſtänden abzuwerfen und zu
vergeſſen. Aber dieſes ſchnell aufflackernde Gefühl iſt
nur der Sonnenblick, dem alsbald wieder die vorige
Wolkentrübe folgt. Conſtanze erwehrte ſich ſo gut
wie möglich. Doch als der Graf zu ſeiner größten
Freude die Gewächſe meiſt unverlezt fand, und bei
jedem neuen Stocke bemüht war, die Schweſter von
ſeinem Glück zu überzeugen, da konnte ſie den wehmü-
thigen Gedanken nicht bei ſich unterdrücken: wie war mir
zu Muthe in der Stunde, als dieſen Pflanzen, dieſen
edlen Stämmchen der Froſt das Verderben drohte?
Sie grünen noch und blühen, wie auch ich noch aufrecht
ſtehe, mir ſelber zum Wunder; aber vielleicht der in-
nerſte Lebenskeim dieſer zarten Staude iſt doch an-
gegriffen, es wird ſich zeigen, ob ſie uns nicht mit
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heute Abend ſchon dieſe Knoſpe erſtorben dahängt,
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/234>, abgerufen am 22.07.2024.
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