sey. Nach dem sehr bestimmten Bilde, das er von ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen ihr falsches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er guten Grund, sie deßhalb keineswegs mit den gemei- nen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechseln, ja ihn ergriff das tiefste Mitleid, wenn er bedachte, daß eben dieses unbegreifliche Wesen, das an Agnesens Verrückung Schuld war, selbst ein trauriges Opfer des Wahnsinns sey. So verhielt es sich wirklich; und in diesen Zustand mischte sich eine Leidenschaft für Theobald, von deren wunderbarer Entstehung wir dem Leser in der Folge Rechenschaft geben wer- den. Die Unglückliche glaubte sich in Agnes von einer Nebenbuhlerin befreien zu müssen, und leider kam der Zufall, wie wir gesehen haben, ihrer Absicht gar sehr zu Hülfe. Ihre List mochte übrigens leicht von der Art seyn, wie sie sich bei Verrückten häufig mit der höchsten Gutmüthigkeit gepaart findet, und Larkens entschuldigte sie um so mehr, da er Eli- sabeth (so hieß das Mädchen) immer von einer äu- ßerst arglosen, ja kindlichen Seite kennen gelernt hatte. Wie viel eigentliche Lüge und wie viel Selbstbetrug an jener verhängnißvollen Prophezeihung Antheil ge- habt, wäre daher nicht wohl zu entscheiden, nur wird es jezt um so begreiflicher, daß die Erscheinung und der ganze Ausdruck der Prophetin eine so gewaltsame und hinreißende Wirkung auf das kränklich reizbare Gemüth Agnesens machen konnte.
ſey. Nach dem ſehr beſtimmten Bilde, das er von ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen ihr falſches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er guten Grund, ſie deßhalb keineswegs mit den gemei- nen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechſeln, ja ihn ergriff das tiefſte Mitleid, wenn er bedachte, daß eben dieſes unbegreifliche Weſen, das an Agneſens Verrückung Schuld war, ſelbſt ein trauriges Opfer des Wahnſinns ſey. So verhielt es ſich wirklich; und in dieſen Zuſtand miſchte ſich eine Leidenſchaft für Theobald, von deren wunderbarer Entſtehung wir dem Leſer in der Folge Rechenſchaft geben wer- den. Die Unglückliche glaubte ſich in Agnes von einer Nebenbuhlerin befreien zu müſſen, und leider kam der Zufall, wie wir geſehen haben, ihrer Abſicht gar ſehr zu Hülfe. Ihre Liſt mochte übrigens leicht von der Art ſeyn, wie ſie ſich bei Verrückten häufig mit der höchſten Gutmüthigkeit gepaart findet, und Larkens entſchuldigte ſie um ſo mehr, da er Eli- ſabeth (ſo hieß das Mädchen) immer von einer äu- ßerſt argloſen, ja kindlichen Seite kennen gelernt hatte. Wie viel eigentliche Lüge und wie viel Selbſtbetrug an jener verhängnißvollen Prophezeihung Antheil ge- habt, wäre daher nicht wohl zu entſcheiden, nur wird es jezt um ſo begreiflicher, daß die Erſcheinung und der ganze Ausdruck der Prophetin eine ſo gewaltſame und hinreißende Wirkung auf das kränklich reizbare Gemüth Agneſens machen konnte.
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ſey. Nach dem ſehr beſtimmten Bilde, das er von
ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen
ihr falſches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er
guten Grund, ſie deßhalb keineswegs mit den gemei-
nen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechſeln, ja
ihn ergriff das tiefſte Mitleid, wenn er bedachte, daß
eben dieſes unbegreifliche Weſen, das an Agneſens
Verrückung Schuld war, ſelbſt ein trauriges Opfer
des Wahnſinns ſey. So verhielt es ſich wirklich;
und in dieſen Zuſtand miſchte ſich eine Leidenſchaft
für Theobald, von deren wunderbarer Entſtehung
wir dem Leſer in der Folge Rechenſchaft geben wer-
den. Die Unglückliche glaubte ſich in Agnes von
einer Nebenbuhlerin befreien zu müſſen, und leider
kam der Zufall, wie wir geſehen haben, ihrer Abſicht
gar ſehr zu Hülfe. Ihre Liſt mochte übrigens leicht
von der Art ſeyn, wie ſie ſich bei Verrückten häufig
mit der höchſten Gutmüthigkeit gepaart findet, und
Larkens entſchuldigte ſie um ſo mehr, da er Eli-
ſabeth (ſo hieß das Mädchen) immer von einer äu-
ßerſt argloſen, ja kindlichen Seite kennen gelernt hatte.
Wie viel eigentliche Lüge und wie viel Selbſtbetrug
an jener verhängnißvollen Prophezeihung Antheil ge-
habt, wäre daher nicht wohl zu entſcheiden, nur wird
es jezt um ſo begreiflicher, daß die Erſcheinung und
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/146>, abgerufen am 24.11.2024.
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