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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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Der Alte beruft sich auf seinen frühern Brief an
Theobald, worin die sonderbare Verirrung des
Mädchens, so weit es damals möglich gewesen, bereits
entwickelt worden sey; er wolle aber, da einige erst
neuerdings entdeckte Umstände die Ansicht des Ganzen
bedeutend verändert hätten, Alles von vorn herein er-
zählen, und so sezt er denn dasjenige weitläufig aus-
einander, was wir dem Leser schon mitgetheilt haben.
Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förster zu-
lezt über das Daseyn eines stillen Wahnsinns keinen
Zweifel mehr übrig gelassen. Es ward ein Arzt zu
Rath gezogen, und mit Hülfe dieses einsichtsvollen
Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund
des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei
mußte es für den aufmerksamen Beobachter solcher
abnormen Zustände von dem größten Interesse seyn,
zu bemerken, daß schon das Aussprechen des Geheim-
nisses an und für sich entscheidend für die Heilung war.
Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der
Zigeunerin über Agnesens Lippen kam, schien der
Dämon, der die Seele des armen Geschöpfs umstrickt
hielt, seine Beute fahren zu lassen, und ein herzzer-
schneidender Strom der heftigsten Thränen schien die
Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung
jener geheimen Ursache fand aber um so weniger
Schwierigkeit, da das Mädchen selbst seit der zweiten
Unterredung mit der Zigeunerin ein gewisses Miß-
trauen gegen dieselbe nährte, worin sie sich nun eben

Der Alte beruft ſich auf ſeinen frühern Brief an
Theobald, worin die ſonderbare Verirrung des
Mädchens, ſo weit es damals möglich geweſen, bereits
entwickelt worden ſey; er wolle aber, da einige erſt
neuerdings entdeckte Umſtände die Anſicht des Ganzen
bedeutend verändert hätten, Alles von vorn herein er-
zählen, und ſo ſezt er denn dasjenige weitläufig aus-
einander, was wir dem Leſer ſchon mitgetheilt haben.
Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förſter zu-
lezt über das Daſeyn eines ſtillen Wahnſinns keinen
Zweifel mehr übrig gelaſſen. Es ward ein Arzt zu
Rath gezogen, und mit Hülfe dieſes einſichtsvollen
Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund
des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei
mußte es für den aufmerkſamen Beobachter ſolcher
abnormen Zuſtände von dem größten Intereſſe ſeyn,
zu bemerken, daß ſchon das Ausſprechen des Geheim-
niſſes an und für ſich entſcheidend für die Heilung war.
Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der
Zigeunerin über Agneſens Lippen kam, ſchien der
Dämon, der die Seele des armen Geſchöpfs umſtrickt
hielt, ſeine Beute fahren zu laſſen, und ein herzzer-
ſchneidender Strom der heftigſten Thränen ſchien die
Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung
jener geheimen Urſache fand aber um ſo weniger
Schwierigkeit, da das Mädchen ſelbſt ſeit der zweiten
Unterredung mit der Zigeunerin ein gewiſſes Miß-
trauen gegen dieſelbe nährte, worin ſie ſich nun eben

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[135/0143] Der Alte beruft ſich auf ſeinen frühern Brief an Theobald, worin die ſonderbare Verirrung des Mädchens, ſo weit es damals möglich geweſen, bereits entwickelt worden ſey; er wolle aber, da einige erſt neuerdings entdeckte Umſtände die Anſicht des Ganzen bedeutend verändert hätten, Alles von vorn herein er- zählen, und ſo ſezt er denn dasjenige weitläufig aus- einander, was wir dem Leſer ſchon mitgetheilt haben. Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förſter zu- lezt über das Daſeyn eines ſtillen Wahnſinns keinen Zweifel mehr übrig gelaſſen. Es ward ein Arzt zu Rath gezogen, und mit Hülfe dieſes einſichtsvollen Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei mußte es für den aufmerkſamen Beobachter ſolcher abnormen Zuſtände von dem größten Intereſſe ſeyn, zu bemerken, daß ſchon das Ausſprechen des Geheim- niſſes an und für ſich entſcheidend für die Heilung war. Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der Zigeunerin über Agneſens Lippen kam, ſchien der Dämon, der die Seele des armen Geſchöpfs umſtrickt hielt, ſeine Beute fahren zu laſſen, und ein herzzer- ſchneidender Strom der heftigſten Thränen ſchien die Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung jener geheimen Urſache fand aber um ſo weniger Schwierigkeit, da das Mädchen ſelbſt ſeit der zweiten Unterredung mit der Zigeunerin ein gewiſſes Miß- trauen gegen dieſelbe nährte, worin ſie ſich nun eben

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/143>, abgerufen am 25.11.2024.