und scheine sich vorzubehalten, ihm bald mündlich die treueste Rechenschaft zu geben. Schließlich möge er sich doch wohl bedenken, ehe er ein Geschöpf, dessen ganzes Glück an ihn gebunden sey, um eines immer- hin räthselhaften und darum schwer zu richtenden Ver- gehens willen, ohne weitere Prüfung verstoße.
Diese Nachricht versezte den Maler in die sonder- barste Unruhe. Er war während des Lesens weich ge- worden, er mußte wider Willen seinen entschiedenen Haß mit einem tiefen Verdruß und ärgerlichen Mit- leid vertauschen, und er fühlte sich dabei fast unglück- licher als zuvor.
Wenn er freilich Agnesens ursprüngliche, so äußerst reine Natur mit ihrem neuesten Betragen ver- glich, so schien ihm der Absprung so gräßlich widersin- nig, daß er sich jezt wunderte, wie er eine Weile an die Möglichkeit einer Untreue im gewöhnlichen Sinne des Worts hatte glauben können; der Fall stritt der- gestalt gegen alle Erfahrung, daß eben das Außeror- dentliche des Vergehens zugleich dessen Entschuldigung seyn mußte. "Aber was auch immer die Ursache sey," -- rief Theobald auf's Neue verzweifelnd aus, -- "wie tief der Grund auch liegen mag, die Thatsache bleibt, -- um den ersten heiligen Begriff von Reinheit, Demuth, ungefärbter Neigung bin ich für immer bestohlen! Was soll mir eine verschraubte, kindische Kreatur? Werd' ich nun meine schönsten Hoffnungen zerbrochen als küm- merliche Trümmer, halb knirschend, halb weinend, am
und ſcheine ſich vorzubehalten, ihm bald mündlich die treueſte Rechenſchaft zu geben. Schließlich möge er ſich doch wohl bedenken, ehe er ein Geſchöpf, deſſen ganzes Glück an ihn gebunden ſey, um eines immer- hin räthſelhaften und darum ſchwer zu richtenden Ver- gehens willen, ohne weitere Prüfung verſtoße.
Dieſe Nachricht verſezte den Maler in die ſonder- barſte Unruhe. Er war während des Leſens weich ge- worden, er mußte wider Willen ſeinen entſchiedenen Haß mit einem tiefen Verdruß und ärgerlichen Mit- leid vertauſchen, und er fühlte ſich dabei faſt unglück- licher als zuvor.
Wenn er freilich Agneſens urſprüngliche, ſo äußerſt reine Natur mit ihrem neueſten Betragen ver- glich, ſo ſchien ihm der Abſprung ſo gräßlich widerſin- nig, daß er ſich jezt wunderte, wie er eine Weile an die Möglichkeit einer Untreue im gewöhnlichen Sinne des Worts hatte glauben können; der Fall ſtritt der- geſtalt gegen alle Erfahrung, daß eben das Außeror- dentliche des Vergehens zugleich deſſen Entſchuldigung ſeyn mußte. „Aber was auch immer die Urſache ſey,“ — rief Theobald auf’s Neue verzweifelnd aus, — „wie tief der Grund auch liegen mag, die Thatſache bleibt, — um den erſten heiligen Begriff von Reinheit, Demuth, ungefärbter Neigung bin ich für immer beſtohlen! Was ſoll mir eine verſchraubte, kindiſche Kreatur? Werd’ ich nun meine ſchönſten Hoffnungen zerbrochen als küm- merliche Trümmer, halb knirſchend, halb weinend, am
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und ſcheine ſich vorzubehalten, ihm bald mündlich die
treueſte Rechenſchaft zu geben. Schließlich möge er
ſich doch wohl bedenken, ehe er ein Geſchöpf, deſſen
ganzes Glück an ihn gebunden ſey, um eines immer-
hin räthſelhaften und darum ſchwer zu richtenden Ver-
gehens willen, ohne weitere Prüfung verſtoße.
Dieſe Nachricht verſezte den Maler in die ſonder-
barſte Unruhe. Er war während des Leſens weich ge-
worden, er mußte wider Willen ſeinen entſchiedenen
Haß mit einem tiefen Verdruß und ärgerlichen Mit-
leid vertauſchen, und er fühlte ſich dabei faſt unglück-
licher als zuvor.
Wenn er freilich Agneſens urſprüngliche, ſo
äußerſt reine Natur mit ihrem neueſten Betragen ver-
glich, ſo ſchien ihm der Abſprung ſo gräßlich widerſin-
nig, daß er ſich jezt wunderte, wie er eine Weile an
die Möglichkeit einer Untreue im gewöhnlichen Sinne
des Worts hatte glauben können; der Fall ſtritt der-
geſtalt gegen alle Erfahrung, daß eben das Außeror-
dentliche des Vergehens zugleich deſſen Entſchuldigung
ſeyn mußte. „Aber was auch immer die Urſache ſey,“ —
rief Theobald auf’s Neue verzweifelnd aus, — „wie
tief der Grund auch liegen mag, die Thatſache bleibt, —
um den erſten heiligen Begriff von Reinheit, Demuth,
ungefärbter Neigung bin ich für immer beſtohlen! Was
ſoll mir eine verſchraubte, kindiſche Kreatur? Werd’
ich nun meine ſchönſten Hoffnungen zerbrochen als küm-
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/102>, abgerufen am 28.11.2024.
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