Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.Mein Fluss. O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl! Empfange nun, empfange Den sehnsuchtsvollen Leib einmal Und küsse Brust und Wange! -- Er fühlt mir schon herauf die Brust, Er kühlt mit Liebesschauerlust Und jauchzendem Gesange. Es schlüpft der goldne Sonnenschein In Tropfen an mir nieder, Die Woge wieget aus und ein Die hingegeb'nen Glieder; Die Arme hab' ich ausgespannt, Sie kommt auf mich herzugerannt, Sie faßt und läßt mich wieder. Du murmelst so, mein Fluß, warum? Du trägst seit alten Tagen Ein seltsam Mährchen mit dir um, Und müh'st dich, es zu sagen; Du eilst so sehr und läufst so sehr, Als müßtest du im Land umher, Man weiß nicht, wen? drum fragen. Der Himmel blau und kinderrein, Worin die Wellen singen, Der Himmel ist die Seele dein: Mein Fluſs. O Fluß, mein Fluß im Morgenſtrahl! Empfange nun, empfange Den ſehnſuchtsvollen Leib einmal Und kuͤſſe Bruſt und Wange! — Er fuͤhlt mir ſchon herauf die Bruſt, Er kuͤhlt mit Liebesſchauerluſt Und jauchzendem Geſange. Es ſchluͤpft der goldne Sonnenſchein In Tropfen an mir nieder, Die Woge wieget aus und ein Die hingegeb'nen Glieder; Die Arme hab' ich ausgeſpannt, Sie kommt auf mich herzugerannt, Sie faßt und laͤßt mich wieder. Du murmelſt ſo, mein Fluß, warum? Du traͤgſt ſeit alten Tagen Ein ſeltſam Maͤhrchen mit dir um, Und muͤh'ſt dich, es zu ſagen; Du eilſt ſo ſehr und laͤufſt ſo ſehr, Als muͤßteſt du im Land umher, Man weiß nicht, wen? drum fragen. Der Himmel blau und kinderrein, Worin die Wellen ſingen, Der Himmel iſt die Seele dein: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0078" n="62"/> </div> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">Mein Fluſs.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>O Fluß, mein Fluß im Morgenſtrahl!</l><lb/> <l>Empfange nun, empfange</l><lb/> <l>Den ſehnſuchtsvollen Leib einmal</l><lb/> <l>Und kuͤſſe Bruſt und Wange!</l><lb/> <l>— Er fuͤhlt mir ſchon herauf die Bruſt,</l><lb/> <l>Er kuͤhlt mit Liebesſchauerluſt</l><lb/> <l>Und jauchzendem Geſange.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Es ſchluͤpft der goldne Sonnenſchein</l><lb/> <l>In Tropfen an mir nieder,</l><lb/> <l>Die Woge wieget aus und ein</l><lb/> <l>Die hingegeb'nen Glieder;</l><lb/> <l>Die Arme hab' ich ausgeſpannt,</l><lb/> <l>Sie kommt auf mich herzugerannt,</l><lb/> <l>Sie faßt und laͤßt mich wieder.</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>Du murmelſt ſo, mein Fluß, warum?</l><lb/> <l>Du traͤgſt ſeit alten Tagen</l><lb/> <l>Ein ſeltſam Maͤhrchen mit dir um,</l><lb/> <l>Und muͤh'ſt dich, es zu ſagen;</l><lb/> <l>Du eilſt ſo ſehr und laͤufſt ſo ſehr,</l><lb/> <l>Als muͤßteſt du im Land umher,</l><lb/> <l>Man weiß nicht, wen? drum fragen.</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Der Himmel blau und kinderrein,</l><lb/> <l>Worin die Wellen ſingen,</l><lb/> <l>Der Himmel iſt die Seele dein:</l><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [62/0078]
Mein Fluſs.
O Fluß, mein Fluß im Morgenſtrahl!
Empfange nun, empfange
Den ſehnſuchtsvollen Leib einmal
Und kuͤſſe Bruſt und Wange!
— Er fuͤhlt mir ſchon herauf die Bruſt,
Er kuͤhlt mit Liebesſchauerluſt
Und jauchzendem Geſange.
Es ſchluͤpft der goldne Sonnenſchein
In Tropfen an mir nieder,
Die Woge wieget aus und ein
Die hingegeb'nen Glieder;
Die Arme hab' ich ausgeſpannt,
Sie kommt auf mich herzugerannt,
Sie faßt und laͤßt mich wieder.
Du murmelſt ſo, mein Fluß, warum?
Du traͤgſt ſeit alten Tagen
Ein ſeltſam Maͤhrchen mit dir um,
Und muͤh'ſt dich, es zu ſagen;
Du eilſt ſo ſehr und laͤufſt ſo ſehr,
Als muͤßteſt du im Land umher,
Man weiß nicht, wen? drum fragen.
Der Himmel blau und kinderrein,
Worin die Wellen ſingen,
Der Himmel iſt die Seele dein:
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Zitationshilfe: | Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/78>, abgerufen am 16.02.2025. |