Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838."Jezt ist wohl ein Regenbogen An dem Himmel," sagt' ich einmal: Dann in meinem frohen Muthe Sprach ich weiter diese Worte: "Käm' auch keiner mehr an Himmel, Wär' es gar nicht zu verwundern, Denn die Leute ziehn ja selber Seine bunten Bogenstreifen Zu sich nieder auf die Gassen. Sieh nur, wie sie sich beeilen! Jeder mit dem Regendache Führet einen andern Farben- Bogen über seinem Haupte, Jeder springt mit seinem Raube, Blaue, rothe, violete, -- Alles nehmen sie mit fort." Und du lächeltest und bogest Mit mir um die lezte Ecke. Und ich bat dich um ein Röslein,
Das du an der Brust getragen, Und du reichtest mir's im Gehen Schnelle hin, das süße Röslein; Zitternd hob ich's an die Lippen, Küßt' es brünstig zwei- und dreimal, Niemand konnte dessen spotten, Keine Seele hat's gesehen, Und du selber sahst es nicht. „Jezt iſt wohl ein Regenbogen An dem Himmel,“ ſagt' ich einmal: Dann in meinem frohen Muthe Sprach ich weiter dieſe Worte: „Kaͤm' auch keiner mehr an Himmel, Waͤr' es gar nicht zu verwundern, Denn die Leute ziehn ja ſelber Seine bunten Bogenſtreifen Zu ſich nieder auf die Gaſſen. Sieh nur, wie ſie ſich beeilen! Jeder mit dem Regendache Fuͤhret einen andern Farben- Bogen uͤber ſeinem Haupte, Jeder ſpringt mit ſeinem Raube, Blaue, rothe, violete, — Alles nehmen ſie mit fort.“ Und du laͤchelteſt und bogeſt Mit mir um die lezte Ecke. Und ich bat dich um ein Roͤslein,
Das du an der Bruſt getragen, Und du reichteſt mir's im Gehen Schnelle hin, das ſuͤße Roͤslein; Zitternd hob ich's an die Lippen, Kuͤßt' es bruͤnſtig zwei- und dreimal, Niemand konnte deſſen ſpotten, Keine Seele hat's geſehen, Und du ſelber ſahſt es nicht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0020" n="4"/> <lg n="4"> <l>„Jezt iſt wohl ein Regenbogen</l><lb/> <l>An dem Himmel,“ ſagt' ich einmal:</l><lb/> <l>Dann in meinem frohen Muthe</l><lb/> <l>Sprach ich weiter dieſe Worte:</l><lb/> <l>„Kaͤm' auch keiner mehr an Himmel,</l><lb/> <l>Waͤr' es gar nicht zu verwundern,</l><lb/> <l>Denn die Leute ziehn ja ſelber</l><lb/> <l>Seine bunten Bogenſtreifen</l><lb/> <l>Zu ſich nieder auf die Gaſſen.</l><lb/> <l>Sieh nur, wie ſie ſich beeilen!</l><lb/> <l>Jeder mit dem Regendache</l><lb/> <l>Fuͤhret einen andern Farben-</l><lb/> <l>Bogen uͤber ſeinem Haupte,</l><lb/> <l>Jeder ſpringt mit ſeinem Raube,</l><lb/> <l>Blaue, rothe, violete, —</l><lb/> <l>Alles nehmen ſie mit fort.“</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Und du laͤchelteſt und bogeſt</l><lb/> <l>Mit mir um die lezte Ecke.</l><lb/> </lg> <lg n="6"> <l>Und ich bat dich um ein Roͤslein,</l><lb/> <l>Das du an der Bruſt getragen,</l><lb/> <l>Und du reichteſt mir's im Gehen</l><lb/> <l>Schnelle hin, das ſuͤße Roͤslein;</l><lb/> <l>Zitternd hob ich's an die Lippen,</l><lb/> <l>Kuͤßt' es bruͤnſtig zwei- und dreimal,</l><lb/> <l>Niemand konnte deſſen ſpotten,</l><lb/> <l>Keine Seele hat's geſehen,</l><lb/> <l>Und du ſelber ſahſt es nicht.</l><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [4/0020]
„Jezt iſt wohl ein Regenbogen
An dem Himmel,“ ſagt' ich einmal:
Dann in meinem frohen Muthe
Sprach ich weiter dieſe Worte:
„Kaͤm' auch keiner mehr an Himmel,
Waͤr' es gar nicht zu verwundern,
Denn die Leute ziehn ja ſelber
Seine bunten Bogenſtreifen
Zu ſich nieder auf die Gaſſen.
Sieh nur, wie ſie ſich beeilen!
Jeder mit dem Regendache
Fuͤhret einen andern Farben-
Bogen uͤber ſeinem Haupte,
Jeder ſpringt mit ſeinem Raube,
Blaue, rothe, violete, —
Alles nehmen ſie mit fort.“
Und du laͤchelteſt und bogeſt
Mit mir um die lezte Ecke.
Und ich bat dich um ein Roͤslein,
Das du an der Bruſt getragen,
Und du reichteſt mir's im Gehen
Schnelle hin, das ſuͤße Roͤslein;
Zitternd hob ich's an die Lippen,
Kuͤßt' es bruͤnſtig zwei- und dreimal,
Niemand konnte deſſen ſpotten,
Keine Seele hat's geſehen,
Und du ſelber ſahſt es nicht.
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Zitationshilfe: | Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/20>, abgerufen am 22.07.2024. |