Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.Nannys Traum. Der Mutter zum Geburtstage. Ich ging auf grünen Wiesengründen, Ich wollte gar zu gern für Dich Ein herzig Blümelein wo finden, Und lief und suchte emsiglich. Ach, nirgend sah ich eines stehen, Da fing ich laut zu weinen an: "Den Frühling hab' ich kaum gesehen, Und kommt der Winter schon heran!" So lief ich fort und fort mit Trauern, Erst bei dem letzten Abendschein Hielt ich vor heil'gen Kirchenmauern, Das Thor stand auf, ich trat hinein Und kam in einen stillen Garten Und vor ein frisch bereites Grab, Dran sah ich einen Engel warten, Gelehnt auf einen Hirtenstab. Der schaut mich traurig an und bange
Und nickt und winket mich herbei; Mir war, als kennt' ich ihn schon lange An seinen Augen fromm und treu. Nannys Traum. Der Mutter zum Geburtstage. Ich ging auf gruͤnen Wieſengruͤnden, Ich wollte gar zu gern fuͤr Dich Ein herzig Bluͤmelein wo finden, Und lief und ſuchte emſiglich. Ach, nirgend ſah ich eines ſtehen, Da fing ich laut zu weinen an: „Den Fruͤhling hab' ich kaum geſehen, Und kommt der Winter ſchon heran!“ So lief ich fort und fort mit Trauern, Erſt bei dem letzten Abendſchein Hielt ich vor heil'gen Kirchenmauern, Das Thor ſtand auf, ich trat hinein Und kam in einen ſtillen Garten Und vor ein friſch bereites Grab, Dran ſah ich einen Engel warten, Gelehnt auf einen Hirtenſtab. Der ſchaut mich traurig an und bange
Und nickt und winket mich herbei; Mir war, als kennt' ich ihn ſchon lange An ſeinen Augen fromm und treu. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb n="141" facs="#f0157"/> </div> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">Nannys Traum.</hi><lb/> </head> <p rendition="#c"><hi rendition="#g">Der Mutter zum Geburtstage.</hi><lb/> Mit einer rothen Roſe.</p><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l><hi rendition="#in">I</hi>ch ging auf gruͤnen Wieſengruͤnden,</l><lb/> <l>Ich wollte gar zu gern fuͤr Dich</l><lb/> <l>Ein herzig Bluͤmelein wo finden,</l><lb/> <l>Und lief und ſuchte emſiglich.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Ach, nirgend ſah ich eines ſtehen,</l><lb/> <l>Da fing ich laut zu weinen an:</l><lb/> <l>„Den Fruͤhling hab' ich kaum geſehen,</l><lb/> <l>Und kommt der Winter ſchon heran!“</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>So lief ich fort und fort mit Trauern,</l><lb/> <l>Erſt bei dem letzten Abendſchein</l><lb/> <l>Hielt ich vor heil'gen Kirchenmauern,</l><lb/> <l>Das Thor ſtand auf, ich trat hinein</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Und kam in einen ſtillen Garten</l><lb/> <l>Und vor ein friſch bereites Grab,</l><lb/> <l>Dran ſah ich einen Engel warten,</l><lb/> <l>Gelehnt auf einen Hirtenſtab.</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Der ſchaut mich traurig an und bange</l><lb/> <l>Und nickt und winket mich herbei;</l><lb/> <l>Mir war, als kennt' ich ihn ſchon lange</l><lb/> <l>An ſeinen Augen fromm und treu.</l><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [141/0157]
Nannys Traum.
Der Mutter zum Geburtstage.
Mit einer rothen Roſe.
Ich ging auf gruͤnen Wieſengruͤnden,
Ich wollte gar zu gern fuͤr Dich
Ein herzig Bluͤmelein wo finden,
Und lief und ſuchte emſiglich.
Ach, nirgend ſah ich eines ſtehen,
Da fing ich laut zu weinen an:
„Den Fruͤhling hab' ich kaum geſehen,
Und kommt der Winter ſchon heran!“
So lief ich fort und fort mit Trauern,
Erſt bei dem letzten Abendſchein
Hielt ich vor heil'gen Kirchenmauern,
Das Thor ſtand auf, ich trat hinein
Und kam in einen ſtillen Garten
Und vor ein friſch bereites Grab,
Dran ſah ich einen Engel warten,
Gelehnt auf einen Hirtenſtab.
Der ſchaut mich traurig an und bange
Und nickt und winket mich herbei;
Mir war, als kennt' ich ihn ſchon lange
An ſeinen Augen fromm und treu.
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Zitationshilfe: | Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/157>, abgerufen am 04.03.2025. |