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Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763.

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Neunter Gesang.
700
O geheiligte, weise, selbst Weisheit gebende Pflanze,
Mutter von aller Erkenntniß, ich fühle nun klar und unstreitig
Jn mir deine mächtige Kraft; indem ich die Dinge
Jn der ersten Ursach nicht nur, selber die Wege
Jener Geister entdecke, die sie gewirket; so weise
705Sie auch scheinen! O Fürstinn von dieser herrlichen Erde,

Glaube den strengen Drohungen nicht vom Tode! du wirst nicht
Sterben! Wie könntest du sterben? Von dieser Frucht? Nein, sie giebt dir
Jn der Erkenntniß das Leben. Durch ihn, den Drohenden? Siehe
Mich, ich, der sie berührt, ich, der ich von ihr gegessen,
710Und doch lebe, ja der ich hiedurch zu vollkommnerem Leben,

Als das neidsche Geschick vielleicht mir bestimmte, gelanget,
Da ich mich höher, als dieses mein Loos ist, zu streben erkühnet.
Wäre denn dieses dem Menschen versagt, dieß, welches dem Thiere
Freysteht? Oder wird Gott um ein so kleines Versehen
715Sich entzünden im Zorn, und eure muthige Tugend

Nicht erheben, die, was auch der Tod nun schreckliches seyn mag,
Doch die angekü[n]digte Pein des Todes nicht abschreckt,
Das zu versuchen, was sie zu einem glücklichern Leben
Und zur höhern Erkenntniß des Vösen und Guten hinaufführt.
720Zu der Erkenntniß des Guten? wie billig ist dieses! des Bösen?

Wenn das Böse was wirkliches ist, wie sollte das Böse
Nicht gekannt seyn, indem man dadurch am leichtsten es meidet.
Gott kann euch deswegen nicht strafen, und doch noch gerecht seyn.
Nicht gerecht mehr, wär er nicht Gott, und nicht mehr zu fürchten;
725Nicht gerecht mehr, müßte man ihm nicht länger gehorchen.
Eure
II. Theil. N
Neunter Geſang.
700
O geheiligte, weiſe, ſelbſt Weisheit gebende Pflanze,
Mutter von aller Erkenntniß, ich fuͤhle nun klar und unſtreitig
Jn mir deine maͤchtige Kraft; indem ich die Dinge
Jn der erſten Urſach nicht nur, ſelber die Wege
Jener Geiſter entdecke, die ſie gewirket; ſo weiſe
705Sie auch ſcheinen! O Fuͤrſtinn von dieſer herrlichen Erde,

Glaube den ſtrengen Drohungen nicht vom Tode! du wirſt nicht
Sterben! Wie koͤnnteſt du ſterben? Von dieſer Frucht? Nein, ſie giebt dir
Jn der Erkenntniß das Leben. Durch ihn, den Drohenden? Siehe
Mich, ich, der ſie beruͤhrt, ich, der ich von ihr gegeſſen,
710Und doch lebe, ja der ich hiedurch zu vollkommnerem Leben,

Als das neidſche Geſchick vielleicht mir beſtimmte, gelanget,
Da ich mich hoͤher, als dieſes mein Loos iſt, zu ſtreben erkuͤhnet.
Waͤre denn dieſes dem Menſchen verſagt, dieß, welches dem Thiere
Freyſteht? Oder wird Gott um ein ſo kleines Verſehen
715Sich entzuͤnden im Zorn, und eure muthige Tugend

Nicht erheben, die, was auch der Tod nun ſchreckliches ſeyn mag,
Doch die angekuͤ[n]digte Pein des Todes nicht abſchreckt,
Das zu verſuchen, was ſie zu einem gluͤcklichern Leben
Und zur hoͤhern Erkenntniß des Voͤſen und Guten hinauffuͤhrt.
720Zu der Erkenntniß des Guten? wie billig iſt dieſes! des Boͤſen?

Wenn das Boͤſe was wirkliches iſt, wie ſollte das Boͤſe
Nicht gekannt ſeyn, indem man dadurch am leichtſten es meidet.
Gott kann euch deswegen nicht ſtrafen, und doch noch gerecht ſeyn.
Nicht gerecht mehr, waͤr er nicht Gott, und nicht mehr zu fuͤrchten;
725Nicht gerecht mehr, muͤßte man ihm nicht laͤnger gehorchen.
Eure
II. Theil. N
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[97/0117] Neunter Geſang. O geheiligte, weiſe, ſelbſt Weisheit gebende Pflanze, Mutter von aller Erkenntniß, ich fuͤhle nun klar und unſtreitig Jn mir deine maͤchtige Kraft; indem ich die Dinge Jn der erſten Urſach nicht nur, ſelber die Wege Jener Geiſter entdecke, die ſie gewirket; ſo weiſe Sie auch ſcheinen! O Fuͤrſtinn von dieſer herrlichen Erde, Glaube den ſtrengen Drohungen nicht vom Tode! du wirſt nicht Sterben! Wie koͤnnteſt du ſterben? Von dieſer Frucht? Nein, ſie giebt dir Jn der Erkenntniß das Leben. Durch ihn, den Drohenden? Siehe Mich, ich, der ſie beruͤhrt, ich, der ich von ihr gegeſſen, Und doch lebe, ja der ich hiedurch zu vollkommnerem Leben, Als das neidſche Geſchick vielleicht mir beſtimmte, gelanget, Da ich mich hoͤher, als dieſes mein Loos iſt, zu ſtreben erkuͤhnet. Waͤre denn dieſes dem Menſchen verſagt, dieß, welches dem Thiere Freyſteht? Oder wird Gott um ein ſo kleines Verſehen Sich entzuͤnden im Zorn, und eure muthige Tugend Nicht erheben, die, was auch der Tod nun ſchreckliches ſeyn mag, Doch die angekuͤndigte Pein des Todes nicht abſchreckt, Das zu verſuchen, was ſie zu einem gluͤcklichern Leben Und zur hoͤhern Erkenntniß des Voͤſen und Guten hinauffuͤhrt. Zu der Erkenntniß des Guten? wie billig iſt dieſes! des Boͤſen? Wenn das Boͤſe was wirkliches iſt, wie ſollte das Boͤſe Nicht gekannt ſeyn, indem man dadurch am leichtſten es meidet. Gott kann euch deswegen nicht ſtrafen, und doch noch gerecht ſeyn. Nicht gerecht mehr, waͤr er nicht Gott, und nicht mehr zu fuͤrchten; Nicht gerecht mehr, muͤßte man ihm nicht laͤnger gehorchen. Eure II. Theil. N

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Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 2. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae Altona, 1763, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies02_1763/117>, abgerufen am 26.11.2024.