Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.Zweyter Gesang. Jhrer Quaalen; und wünschen, und streben im flatternden Fluge610Den versuchenden Strom zu erreichen, in süßem Vergessen Augenblicklich ihr Elend, und alle Quaalen und Schmerzen, Nur durch einen einzigen Tropfen, dem Ufer so nahe, Zu verlieren. Allein entgegen steht ihnen das Schicksal; Mit Gorgonischen Schrecken bewacht Medusa die Fluthen [Spaltenumbruch] b), 615Und die Wasser fliehn von sich selbst vor allem, was lebet, Wie sie ehmals die Lippen des Tantalus flohen. So schweiften Diese verirreten Schaaren umher, mit verlohrnem Zuge, Blaß vor Schauder und Schrecken. Mit scheußlich entstellten Augen Sahn sie nun erst ihr klägliches Loos, und fanden zu ruhen 620Keinen Ort. Sie wandelten fort durch manches betrübte Finstere Thal, und durch manche Regionen voll Jammer, Ueber manche gefrohrnen, und manche feurigen Alpen, Klippen, Hölen, und Sümpf', und Lachen, und Strudel, und Grüfte, Schatten des Tods, eine Welt des Tods, vom Schöpfer im Fluche 625Bös' erschaffen; zum Bösen nur gut; wo alles Leben Stirbt, und der Tod nur lebt; in der die Natur nur verkehrte, Ungeheure, abscheuliche Dinge, unnennbare Dinge, Ausgebrütet, abscheulicher noch, als was man in Fabeln Je- b) Man hat unsern Poeten verschie- dentlich getadelt, daß er zu viel My- thologie in sein Gedicht gebracht, und Heydenthum und Christenthum unter- einander gemengt. Man ist darinn unstreitig zu weit gegangen, da Milton diese Fabeln nur immer als Gleichnis- se und Anspielungen gebraucht hat, [Spaltenumbruch] ausser in dieser Stelle, wo er ein Schicksal und eine Medusa in seine Hölle wirklich hineinsetzt. Die gan- ze Stelle bekömmt dadurch ein heyd- nisches Aussehn, welches gewiß seine Absicht nicht war. Man muß dies kleine Versehn, dem Geschmacke der damaligen Zeiten vergeben. Z. K 2
Zweyter Geſang. Jhrer Quaalen; und wuͤnſchen, und ſtreben im flatternden Fluge610Den verſuchenden Strom zu erreichen, in ſuͤßem Vergeſſen Augenblicklich ihr Elend, und alle Quaalen und Schmerzen, Nur durch einen einzigen Tropfen, dem Ufer ſo nahe, Zu verlieren. Allein entgegen ſteht ihnen das Schickſal; Mit Gorgoniſchen Schrecken bewacht Meduſa die Fluthen [Spaltenumbruch] b), 615Und die Waſſer fliehn von ſich ſelbſt vor allem, was lebet, Wie ſie ehmals die Lippen des Tantalus flohen. So ſchweiften Dieſe verirreten Schaaren umher, mit verlohrnem Zuge, Blaß vor Schauder und Schrecken. Mit ſcheußlich entſtellten Augen Sahn ſie nun erſt ihr klaͤgliches Loos, und fanden zu ruhen 620Keinen Ort. Sie wandelten fort durch manches betruͤbte Finſtere Thal, und durch manche Regionen voll Jammer, Ueber manche gefrohrnen, und manche feurigen Alpen, Klippen, Hoͤlen, und Suͤmpf’, und Lachen, und Strudel, und Gruͤfte, Schatten des Tods, eine Welt des Tods, vom Schoͤpfer im Fluche 625Boͤſ’ erſchaffen; zum Boͤſen nur gut; wo alles Leben Stirbt, und der Tod nur lebt; in der die Natur nur verkehrte, Ungeheure, abſcheuliche Dinge, unnennbare Dinge, Ausgebruͤtet, abſcheulicher noch, als was man in Fabeln Je- b) Man hat unſern Poeten verſchie- dentlich getadelt, daß er zu viel My- thologie in ſein Gedicht gebracht, und Heydenthum und Chriſtenthum unter- einander gemengt. Man iſt darinn unſtreitig zu weit gegangen, da Milton dieſe Fabeln nur immer als Gleichniſ- ſe und Anſpielungen gebraucht hat, [Spaltenumbruch] auſſer in dieſer Stelle, wo er ein Schickſal und eine Meduſa in ſeine Hoͤlle wirklich hineinſetzt. Die gan- ze Stelle bekoͤmmt dadurch ein heyd- niſches Ausſehn, welches gewiß ſeine Abſicht nicht war. Man muß dies kleine Verſehn, dem Geſchmacke der damaligen Zeiten vergeben. Z. K 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <lg n="12"> <pb facs="#f0091" n="75"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Zweyter Geſang.</hi> </fw><lb/> <l>Jhrer Quaalen; und wuͤnſchen, und ſtreben im flatternden Fluge</l><lb/> <l><note place="left">610</note>Den verſuchenden Strom zu erreichen, in ſuͤßem Vergeſſen</l><lb/> <l>Augenblicklich ihr Elend, und alle Quaalen und Schmerzen,</l><lb/> <l>Nur durch einen einzigen Tropfen, dem Ufer ſo nahe,</l><lb/> <l>Zu verlieren. Allein entgegen ſteht ihnen das Schickſal;</l><lb/> <l>Mit <hi rendition="#fr">Gorgoniſchen</hi> Schrecken bewacht <hi rendition="#fr">Meduſa</hi> die Fluthen <cb/> <note place="foot" n="b)">Man hat unſern Poeten verſchie-<lb/> dentlich getadelt, daß er zu viel My-<lb/> thologie in ſein Gedicht gebracht, und<lb/> Heydenthum und Chriſtenthum unter-<lb/> einander gemengt. Man iſt darinn<lb/> unſtreitig zu weit gegangen, da Milton<lb/> dieſe Fabeln nur immer als Gleichniſ-<lb/> ſe und Anſpielungen gebraucht hat,<lb/><cb/> auſſer in dieſer Stelle, wo er ein<lb/> Schickſal und eine Meduſa in ſeine<lb/> Hoͤlle wirklich hineinſetzt. Die gan-<lb/> ze Stelle bekoͤmmt dadurch ein heyd-<lb/> niſches Ausſehn, welches gewiß ſeine<lb/> Abſicht nicht war. Man muß dies<lb/> kleine Verſehn, dem Geſchmacke der<lb/> damaligen Zeiten vergeben. <hi rendition="#fr">Z.</hi></note>,</l><lb/> <l><note place="left">615</note>Und die Waſſer fliehn von ſich ſelbſt vor allem, was lebet,</l><lb/> <l>Wie ſie ehmals die Lippen des <hi rendition="#fr">Tantalus</hi> flohen. So ſchweiften</l><lb/> <l>Dieſe verirreten Schaaren umher, mit verlohrnem Zuge,</l><lb/> <l>Blaß vor Schauder und Schrecken. Mit ſcheußlich entſtellten Augen</l><lb/> <l>Sahn ſie nun erſt ihr klaͤgliches Loos, und fanden zu ruhen</l><lb/> <l><note place="left">620</note>Keinen Ort. Sie wandelten fort durch manches betruͤbte</l><lb/> <l>Finſtere Thal, und durch manche Regionen voll Jammer,</l><lb/> <l>Ueber manche gefrohrnen, und manche feurigen Alpen,</l><lb/> <l>Klippen, Hoͤlen, und Suͤmpf’, und Lachen, und Strudel, und Gruͤfte,</l><lb/> <l>Schatten des Tods, eine Welt des Tods, vom Schoͤpfer im Fluche</l><lb/> <l><note place="left">625</note>Boͤſ’ erſchaffen; zum Boͤſen nur gut; wo alles Leben</l><lb/> <l>Stirbt, und der Tod nur lebt; in der die Natur nur verkehrte,</l><lb/> <l>Ungeheure, abſcheuliche Dinge, unnennbare Dinge,</l><lb/> <l>Ausgebruͤtet, abſcheulicher noch, als was man in Fabeln</l><lb/> <fw place="bottom" type="sig">K 2</fw> <fw place="bottom" type="catch">Je-</fw><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [75/0091]
Zweyter Geſang.
Jhrer Quaalen; und wuͤnſchen, und ſtreben im flatternden Fluge
Den verſuchenden Strom zu erreichen, in ſuͤßem Vergeſſen
Augenblicklich ihr Elend, und alle Quaalen und Schmerzen,
Nur durch einen einzigen Tropfen, dem Ufer ſo nahe,
Zu verlieren. Allein entgegen ſteht ihnen das Schickſal;
Mit Gorgoniſchen Schrecken bewacht Meduſa die Fluthen
b),
Und die Waſſer fliehn von ſich ſelbſt vor allem, was lebet,
Wie ſie ehmals die Lippen des Tantalus flohen. So ſchweiften
Dieſe verirreten Schaaren umher, mit verlohrnem Zuge,
Blaß vor Schauder und Schrecken. Mit ſcheußlich entſtellten Augen
Sahn ſie nun erſt ihr klaͤgliches Loos, und fanden zu ruhen
Keinen Ort. Sie wandelten fort durch manches betruͤbte
Finſtere Thal, und durch manche Regionen voll Jammer,
Ueber manche gefrohrnen, und manche feurigen Alpen,
Klippen, Hoͤlen, und Suͤmpf’, und Lachen, und Strudel, und Gruͤfte,
Schatten des Tods, eine Welt des Tods, vom Schoͤpfer im Fluche
Boͤſ’ erſchaffen; zum Boͤſen nur gut; wo alles Leben
Stirbt, und der Tod nur lebt; in der die Natur nur verkehrte,
Ungeheure, abſcheuliche Dinge, unnennbare Dinge,
Ausgebruͤtet, abſcheulicher noch, als was man in Fabeln
Je-
b) Man hat unſern Poeten verſchie-
dentlich getadelt, daß er zu viel My-
thologie in ſein Gedicht gebracht, und
Heydenthum und Chriſtenthum unter-
einander gemengt. Man iſt darinn
unſtreitig zu weit gegangen, da Milton
dieſe Fabeln nur immer als Gleichniſ-
ſe und Anſpielungen gebraucht hat,
auſſer in dieſer Stelle, wo er ein
Schickſal und eine Meduſa in ſeine
Hoͤlle wirklich hineinſetzt. Die gan-
ze Stelle bekoͤmmt dadurch ein heyd-
niſches Ausſehn, welches gewiß ſeine
Abſicht nicht war. Man muß dies
kleine Verſehn, dem Geſchmacke der
damaligen Zeiten vergeben. Z.
K 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |