Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünfter Gesang.
Und ihm, dessen einzigs Gebot so gerecht ist, beständig
540Unsern Gehorsam zu leisten. Das, was du vom traurigen Vorfall
Jn dem Himmel erwähntest, hat in mir einige Zweifel,
Aber noch größre Begierden erweckt, die ganze Geschichte,
Wenn dirs gefällt, zu vernehmen. Sie muß nothwendig sehr seltsam
Und sehr werth seyn, daß man mit heiligem Schweigen sie höre.
545Und noch haben wir langen Tag, denn kaum hat die Sonne
Halb erst die schnelle Reise geendigt; die andere Hälfte
Tritt sie eben itzt an in der großen Zone des Himmels.

So ersuchet ihn Adam. Nach kurzem Schweigen gewährt ihn
Raphael seines Verlangens, indem er so anhub zu reden:
550
Hohe Materien soll ich entwickeln [Spaltenumbruch] x), o Erster der Menschen!
Traurige schwere Bemühung! Wie soll ich menschlichen Sinnen
Unsichtbare Thaten von kriegenden Geistern erzehlen?
Oder wie ohne Betrübniß den schrecklichen Fall dir beschreiben
Von so viel ehmals vollkommnen, glorreichen, mächtigen Engeln,
555Als sie noch im Gehorsam stunden? Wie soll ich dir endlich
Einer
x) Die Epischen Dichter pflegen
die wichtigsten Dinge die vor der Hand-
lung des Gedichts geschehn, in einer
Episode oder Erzehlung anzubringen.
So wie Ulysses im Homer dem Al-
cinous und Aeneas im Virgil der Di-
do ihre Begebenheiten erzehlen, so er-
zehlt hier der Engel an Adam die Schö-
pfung der Welt, und fängt seine Er-
[Spaltenumbruch] zehlung vom Fall der Engel fast eben
so an, wie Aeneas die Geschichte von
der Zerstörung Troja Virg. Aen. II. 3.
Infundum, regina, jubes renouare
dolorem.

Königinn, du befiehlst mir den un-
aussprechlichen Kummer
Zu erneuern.
N.
D d

Fuͤnfter Geſang.
Und ihm, deſſen einzigs Gebot ſo gerecht iſt, beſtaͤndig
540Unſern Gehorſam zu leiſten. Das, was du vom traurigen Vorfall
Jn dem Himmel erwaͤhnteſt, hat in mir einige Zweifel,
Aber noch groͤßre Begierden erweckt, die ganze Geſchichte,
Wenn dirs gefaͤllt, zu vernehmen. Sie muß nothwendig ſehr ſeltſam
Und ſehr werth ſeyn, daß man mit heiligem Schweigen ſie hoͤre.
545Und noch haben wir langen Tag, denn kaum hat die Sonne
Halb erſt die ſchnelle Reiſe geendigt; die andere Haͤlfte
Tritt ſie eben itzt an in der großen Zone des Himmels.

So erſuchet ihn Adam. Nach kurzem Schweigen gewaͤhrt ihn
Raphael ſeines Verlangens, indem er ſo anhub zu reden:
550
Hohe Materien ſoll ich entwickeln [Spaltenumbruch] x), o Erſter der Menſchen!
Traurige ſchwere Bemuͤhung! Wie ſoll ich menſchlichen Sinnen
Unſichtbare Thaten von kriegenden Geiſtern erzehlen?
Oder wie ohne Betruͤbniß den ſchrecklichen Fall dir beſchreiben
Von ſo viel ehmals vollkommnen, glorreichen, maͤchtigen Engeln,
555Als ſie noch im Gehorſam ſtunden? Wie ſoll ich dir endlich
Einer
x) Die Epiſchen Dichter pflegen
die wichtigſten Dinge die vor der Hand-
lung des Gedichts geſchehn, in einer
Epiſode oder Erzehlung anzubringen.
So wie Ulyſſes im Homer dem Al-
cinous und Aeneas im Virgil der Di-
do ihre Begebenheiten erzehlen, ſo er-
zehlt hier der Engel an Adam die Schoͤ-
pfung der Welt, und faͤngt ſeine Er-
[Spaltenumbruch] zehlung vom Fall der Engel faſt eben
ſo an, wie Aeneas die Geſchichte von
der Zerſtoͤrung Troja Virg. Aen. II. 3.
Infundum, regina, jubes renouare
dolorem.

Koͤniginn, du befiehlſt mir den un-
ausſprechlichen Kummer
Zu erneuern.
N.
D d
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <lg n="34">
            <pb facs="#f0231" n="209"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Fu&#x0364;nfter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
            <l>Und ihm, de&#x017F;&#x017F;en einzigs Gebot &#x017F;o gerecht i&#x017F;t, be&#x017F;ta&#x0364;ndig</l><lb/>
            <l><note place="left">540</note>Un&#x017F;ern Gehor&#x017F;am zu lei&#x017F;ten. Das, was du vom traurigen Vorfall</l><lb/>
            <l>Jn dem Himmel erwa&#x0364;hnte&#x017F;t, hat in mir einige Zweifel,</l><lb/>
            <l>Aber noch gro&#x0364;ßre Begierden erweckt, die ganze Ge&#x017F;chichte,</l><lb/>
            <l>Wenn dirs gefa&#x0364;llt, zu vernehmen. Sie muß nothwendig &#x017F;ehr &#x017F;elt&#x017F;am</l><lb/>
            <l>Und &#x017F;ehr werth &#x017F;eyn, daß man mit heiligem Schweigen &#x017F;ie ho&#x0364;re.</l><lb/>
            <l><note place="left">545</note>Und noch haben wir langen Tag, denn kaum hat die Sonne</l><lb/>
            <l>Halb er&#x017F;t die &#x017F;chnelle Rei&#x017F;e geendigt; die andere Ha&#x0364;lfte</l><lb/>
            <l>Tritt &#x017F;ie eben itzt an in der großen Zone des Himmels.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="35">
            <l>So er&#x017F;uchet ihn <hi rendition="#fr">Adam.</hi> Nach kurzem Schweigen gewa&#x0364;hrt ihn</l><lb/>
            <l><hi rendition="#fr">Raphael</hi> &#x017F;eines Verlangens, indem er &#x017F;o anhub zu reden:</l>
          </lg><lb/>
          <note place="left">550</note>
          <lg n="36">
            <l>Hohe Materien &#x017F;oll ich entwickeln <cb/>
<note place="foot" n="x)">Die Epi&#x017F;chen Dichter pflegen<lb/>
die wichtig&#x017F;ten Dinge die vor der Hand-<lb/>
lung des Gedichts ge&#x017F;chehn, in einer<lb/>
Epi&#x017F;ode oder Erzehlung anzubringen.<lb/>
So wie Uly&#x017F;&#x017F;es im Homer dem Al-<lb/>
cinous und Aeneas im Virgil der Di-<lb/>
do ihre Begebenheiten erzehlen, &#x017F;o er-<lb/>
zehlt hier der Engel an Adam die Scho&#x0364;-<lb/>
pfung der Welt, und fa&#x0364;ngt &#x017F;eine Er-<lb/><cb/>
zehlung vom Fall der Engel fa&#x017F;t eben<lb/>
&#x017F;o an, wie Aeneas die Ge&#x017F;chichte von<lb/>
der Zer&#x017F;to&#x0364;rung Troja <hi rendition="#aq">Virg. Aen. II. 3.<lb/>
Infundum, regina, jubes renouare<lb/><hi rendition="#et">dolorem.</hi></hi><lb/>
Ko&#x0364;niginn, du befiehl&#x017F;t mir den un-<lb/><hi rendition="#et">aus&#x017F;prechlichen Kummer</hi><lb/>
Zu erneuern.<lb/><hi rendition="#et"><hi rendition="#fr">N.</hi></hi></note>, o Er&#x017F;ter der Men&#x017F;chen!</l><lb/>
            <l>Traurige &#x017F;chwere Bemu&#x0364;hung! Wie &#x017F;oll ich men&#x017F;chlichen Sinnen</l><lb/>
            <l>Un&#x017F;ichtbare Thaten von kriegenden Gei&#x017F;tern erzehlen?</l><lb/>
            <l>Oder wie ohne Betru&#x0364;bniß den &#x017F;chrecklichen Fall dir be&#x017F;chreiben</l><lb/>
            <l>Von &#x017F;o viel ehmals vollkommnen, glorreichen, ma&#x0364;chtigen Engeln,</l><lb/>
            <l><note place="left">555</note>Als &#x017F;ie noch im Gehor&#x017F;am &#x017F;tunden? Wie &#x017F;oll ich dir endlich</l><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Einer</fw><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">D d</fw><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0231] Fuͤnfter Geſang. Und ihm, deſſen einzigs Gebot ſo gerecht iſt, beſtaͤndig Unſern Gehorſam zu leiſten. Das, was du vom traurigen Vorfall Jn dem Himmel erwaͤhnteſt, hat in mir einige Zweifel, Aber noch groͤßre Begierden erweckt, die ganze Geſchichte, Wenn dirs gefaͤllt, zu vernehmen. Sie muß nothwendig ſehr ſeltſam Und ſehr werth ſeyn, daß man mit heiligem Schweigen ſie hoͤre. Und noch haben wir langen Tag, denn kaum hat die Sonne Halb erſt die ſchnelle Reiſe geendigt; die andere Haͤlfte Tritt ſie eben itzt an in der großen Zone des Himmels. So erſuchet ihn Adam. Nach kurzem Schweigen gewaͤhrt ihn Raphael ſeines Verlangens, indem er ſo anhub zu reden: Hohe Materien ſoll ich entwickeln x), o Erſter der Menſchen! Traurige ſchwere Bemuͤhung! Wie ſoll ich menſchlichen Sinnen Unſichtbare Thaten von kriegenden Geiſtern erzehlen? Oder wie ohne Betruͤbniß den ſchrecklichen Fall dir beſchreiben Von ſo viel ehmals vollkommnen, glorreichen, maͤchtigen Engeln, Als ſie noch im Gehorſam ſtunden? Wie ſoll ich dir endlich Einer x) Die Epiſchen Dichter pflegen die wichtigſten Dinge die vor der Hand- lung des Gedichts geſchehn, in einer Epiſode oder Erzehlung anzubringen. So wie Ulyſſes im Homer dem Al- cinous und Aeneas im Virgil der Di- do ihre Begebenheiten erzehlen, ſo er- zehlt hier der Engel an Adam die Schoͤ- pfung der Welt, und faͤngt ſeine Er- zehlung vom Fall der Engel faſt eben ſo an, wie Aeneas die Geſchichte von der Zerſtoͤrung Troja Virg. Aen. II. 3. Infundum, regina, jubes renouare dolorem. Koͤniginn, du befiehlſt mir den un- ausſprechlichen Kummer Zu erneuern. N. D d

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/231
Zitationshilfe: Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/milton_paradies01_1760/231>, abgerufen am 27.11.2024.