Milton, John: Das Verlohrne Paradies. Bd. 1. Übers. v. Justus Friedrich Wilhelm Zachariae. Altona, 1760.Vierter Gesang. Als der Erzverräther sie sah, verschmäht er verächtlichDen gehörigen Eingang, und sprang mit fliegendem Sprunge Ueber alle Hügel, und über die höhesten Wälle, Und ließ innerhalb sich auf seine Füsse hernieder. 185Wie ein räubrischer Wolf, den nagender Hunger nach Beute Forttreibt in fremde Bezirke, wo wachsam die Schäfer am Abend Jhre Heerden auf sichern Gesilden, in feste Schranken Eingesperrt halten, mit leichtem Sprung über niedrige Hürden Jn die Heerde hinabspringt; und wie ein Dieb, der die Kisten 190Eines wohlhabenden Manns zu plündern gedenket; die Thüren Stark, und massiv, sind wohl verwahrt mit eisernen Stangen; Keinen Anfall fürchtend; er aber steiget zum Fenster, Oder zum Dach herein. So stieg er, der Erste, große Räuber in Gottes Schaafstall, so steigen die Miethlinge nachher 195Jn die Kirche des Höchsten. Jtzt flog zum Baume des Lebens Satan auf; (er stand in der Mitte der höchste der Bäume) Und saß auf demselben gleich einem Meerraben [Spaltenumbruch] i); saß hier, Aber erlangte dadurch nicht wahres Leben [Spaltenumbruch] k); den Tod nur, Weissagend allen, die lebten; auch dacht er nicht an die Tugend 200Dieser lebengebenden Pflanze; zur Aussicht allein nur Braucht i) Der Dichter hat Satan im drit- ten Buche mit einem Geyer verglichen, und hier sehr wohl mit einem Meer- raben; welches ein sehr gefräßiger Seevogel ist, und ein sehr gutes Bild von diesem Verderber des Menschen- geschlechts abgiebt. k) Was sollte Satan für einen an-
dern Gebrauch von dem Baum des Lebens machen? Würde, wenn er da- von gegessen hätte, dieses sein Wesen verändert, oder ihn noch unsterblicher gemacht haben, als er schon war? Es ist nicht leicht, Miltons wahren Sinn dieser Stelle einzusehn. N. Vierter Geſang. Als der Erzverraͤther ſie ſah, verſchmaͤht er veraͤchtlichDen gehoͤrigen Eingang, und ſprang mit fliegendem Sprunge Ueber alle Huͤgel, und uͤber die hoͤheſten Waͤlle, Und ließ innerhalb ſich auf ſeine Fuͤſſe hernieder. 185Wie ein raͤubriſcher Wolf, den nagender Hunger nach Beute Forttreibt in fremde Bezirke, wo wachſam die Schaͤfer am Abend Jhre Heerden auf ſichern Geſilden, in feſte Schranken Eingeſperrt halten, mit leichtem Sprung uͤber niedrige Huͤrden Jn die Heerde hinabſpringt; und wie ein Dieb, der die Kiſten 190Eines wohlhabenden Manns zu pluͤndern gedenket; die Thuͤren Stark, und maſſiv, ſind wohl verwahrt mit eiſernen Stangen; Keinen Anfall fuͤrchtend; er aber ſteiget zum Fenſter, Oder zum Dach herein. So ſtieg er, der Erſte, große Raͤuber in Gottes Schaafſtall, ſo ſteigen die Miethlinge nachher 195Jn die Kirche des Hoͤchſten. Jtzt flog zum Baume des Lebens Satan auf; (er ſtand in der Mitte der hoͤchſte der Baͤume) Und ſaß auf demſelben gleich einem Meerraben [Spaltenumbruch] i); ſaß hier, Aber erlangte dadurch nicht wahres Leben [Spaltenumbruch] k); den Tod nur, Weiſſagend allen, die lebten; auch dacht er nicht an die Tugend 200Dieſer lebengebenden Pflanze; zur Ausſicht allein nur Braucht i) Der Dichter hat Satan im drit- ten Buche mit einem Geyer verglichen, und hier ſehr wohl mit einem Meer- raben; welches ein ſehr gefraͤßiger Seevogel iſt, und ein ſehr gutes Bild von dieſem Verderber des Menſchen- geſchlechts abgiebt. k) Was ſollte Satan fuͤr einen an-
dern Gebrauch von dem Baum des Lebens machen? Wuͤrde, wenn er da- von gegeſſen haͤtte, dieſes ſein Weſen veraͤndert, oder ihn noch unſterblicher gemacht haben, als er ſchon war? Es iſt nicht leicht, Miltons wahren Sinn dieſer Stelle einzuſehn. N. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg type="poem"> <lg n="4"> <pb facs="#f0163" n="143"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Vierter Geſang.</hi> </fw><lb/> <l>Als der Erzverraͤther ſie ſah, verſchmaͤht er veraͤchtlich</l><lb/> <l>Den gehoͤrigen Eingang, und ſprang mit fliegendem Sprunge</l><lb/> <l>Ueber alle Huͤgel, und uͤber die hoͤheſten Waͤlle,</l><lb/> <l>Und ließ innerhalb ſich auf ſeine Fuͤſſe hernieder.</l><lb/> <l><note place="left">185</note>Wie ein raͤubriſcher Wolf, den nagender Hunger nach Beute</l><lb/> <l>Forttreibt in fremde Bezirke, wo wachſam die Schaͤfer am Abend</l><lb/> <l>Jhre Heerden auf ſichern Geſilden, in feſte Schranken</l><lb/> <l>Eingeſperrt halten, mit leichtem Sprung uͤber niedrige Huͤrden</l><lb/> <l>Jn die Heerde hinabſpringt; und wie ein Dieb, der die Kiſten</l><lb/> <l><note place="left">190</note>Eines wohlhabenden Manns zu pluͤndern gedenket; die Thuͤren</l><lb/> <l>Stark, und maſſiv, ſind wohl verwahrt mit eiſernen Stangen;</l><lb/> <l>Keinen Anfall fuͤrchtend; er aber ſteiget zum Fenſter,</l><lb/> <l>Oder zum Dach herein. So ſtieg er, der Erſte, große</l><lb/> <l>Raͤuber in Gottes Schaafſtall, ſo ſteigen die Miethlinge nachher</l><lb/> <l><note place="left">195</note>Jn die Kirche des Hoͤchſten. Jtzt flog zum Baume des Lebens</l><lb/> <l><hi rendition="#fr">Satan</hi> auf; (er ſtand in der Mitte der hoͤchſte der Baͤume)</l><lb/> <l>Und ſaß auf demſelben gleich einem Meerraben <cb/> <note place="foot" n="i)">Der Dichter hat Satan im drit-<lb/> ten Buche mit einem Geyer verglichen,<lb/> und hier ſehr wohl mit einem Meer-<lb/> raben; welches ein ſehr gefraͤßiger<lb/> Seevogel iſt, und ein ſehr gutes Bild<lb/> von dieſem Verderber des Menſchen-<lb/> geſchlechts abgiebt.</note>; ſaß hier,</l><lb/> <l>Aber erlangte dadurch nicht wahres Leben <cb/> <note place="foot" n="k)">Was ſollte Satan fuͤr einen an-<lb/> dern Gebrauch von dem Baum des<lb/> Lebens machen? Wuͤrde, wenn er da-<lb/> von gegeſſen haͤtte, dieſes ſein Weſen<lb/> veraͤndert, oder ihn noch unſterblicher<lb/> gemacht haben, als er ſchon war?<lb/> Es iſt nicht leicht, Miltons wahren<lb/> Sinn dieſer Stelle einzuſehn. <hi rendition="#fr">N.</hi></note>; den Tod nur,</l><lb/> <l>Weiſſagend allen, die lebten; auch dacht er nicht an die Tugend</l><lb/> <l><note place="left">200</note>Dieſer lebengebenden Pflanze; zur Ausſicht allein nur</l><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Braucht</fw><lb/> </lg> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [143/0163]
Vierter Geſang.
Als der Erzverraͤther ſie ſah, verſchmaͤht er veraͤchtlich
Den gehoͤrigen Eingang, und ſprang mit fliegendem Sprunge
Ueber alle Huͤgel, und uͤber die hoͤheſten Waͤlle,
Und ließ innerhalb ſich auf ſeine Fuͤſſe hernieder.
Wie ein raͤubriſcher Wolf, den nagender Hunger nach Beute
Forttreibt in fremde Bezirke, wo wachſam die Schaͤfer am Abend
Jhre Heerden auf ſichern Geſilden, in feſte Schranken
Eingeſperrt halten, mit leichtem Sprung uͤber niedrige Huͤrden
Jn die Heerde hinabſpringt; und wie ein Dieb, der die Kiſten
Eines wohlhabenden Manns zu pluͤndern gedenket; die Thuͤren
Stark, und maſſiv, ſind wohl verwahrt mit eiſernen Stangen;
Keinen Anfall fuͤrchtend; er aber ſteiget zum Fenſter,
Oder zum Dach herein. So ſtieg er, der Erſte, große
Raͤuber in Gottes Schaafſtall, ſo ſteigen die Miethlinge nachher
Jn die Kirche des Hoͤchſten. Jtzt flog zum Baume des Lebens
Satan auf; (er ſtand in der Mitte der hoͤchſte der Baͤume)
Und ſaß auf demſelben gleich einem Meerraben
i); ſaß hier,
Aber erlangte dadurch nicht wahres Leben
k); den Tod nur,
Weiſſagend allen, die lebten; auch dacht er nicht an die Tugend
Dieſer lebengebenden Pflanze; zur Ausſicht allein nur
Braucht
i) Der Dichter hat Satan im drit-
ten Buche mit einem Geyer verglichen,
und hier ſehr wohl mit einem Meer-
raben; welches ein ſehr gefraͤßiger
Seevogel iſt, und ein ſehr gutes Bild
von dieſem Verderber des Menſchen-
geſchlechts abgiebt.
k) Was ſollte Satan fuͤr einen an-
dern Gebrauch von dem Baum des
Lebens machen? Wuͤrde, wenn er da-
von gegeſſen haͤtte, dieſes ſein Weſen
veraͤndert, oder ihn noch unſterblicher
gemacht haben, als er ſchon war?
Es iſt nicht leicht, Miltons wahren
Sinn dieſer Stelle einzuſehn. N.
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